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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Autoren: Tessa Korber
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leichter. Anstrengende Expeditionen waren das. Es kam rein gar nichts dabei heraus.
    Der HNO -Arzt war ein sehr einfühlsamer Mann, der gleich meinte, so sanft und leise, wie ich mit Simon spräche, sei es sehr unwahrscheinlich, dass er schwerhörig sei, auch wenn Simon die Tests verweigerte. Er fragte mich, ob Simon eventuell ein schüchternes Kind sei, das in der Öffentlichkeit nicht täte, was es nicht gut zu können glaube, und ob es zwanghaft sauberkeits- und ordnungsliebend sei und leicht schwitze.
    Ich erkannte Simon in den Fragen ganz gut wieder, er räumte penibel auf, manchmal zumindest, und wollte immer sofort umgezogen werden, wenn seine Sachen auch nur ein wenig feucht oder bekleckert waren. Einmal hatte ich ihn sehr für ein Bild gelobt, das eine rote Blüte auf leuchtend blauem Grund zeigte. Er schien unwillig, und plötzlich brach einer dieser Sätze aus ihm heraus, die manchmal kommen. »Das ist doch verlaufen.« Ich starrte erstaunt auf die rote Linie, die ich für den Blumenstängel gehalten hatte, und begriff: Simon hielt das Bild für missraten, er konnte das Lob nicht schätzen. So strenge Maßstäbe hatte mein Kind! Das war hart für ihn angesichts der Ungeschicklichkeit seiner Hände. Bastelte er deshalb so ungern, weil es ihm nicht gut genug war, was er konnte?
    Ja, die Beschreibung des Arztes schien mir zu passen. Schwitzen allerdings tat Simon selten. Aber man kann ja nicht alles können. Der Arzt gab ihm eine Dosis Glo-buli.
    Kurz darauf setzte bei Simon ein seltsames Verhalten ein: ein kurzes Wischen mit einer Hand über den Mund, rasch gefolgt von einem zweiten Wischen mit beiden Händen von hinten über die Ohren. Wieder und wieder tat er das, bei jeder Gelegenheit, seine Hände waren so mit Wischen beschäftigt, dass sie kaum noch etwas anderes tun konnten; es ließ sich nicht abstellen. Im ersten Moment dachte ich an eine Erstverschlechterung, wie sie für eine homöopathische Behandlung typisch ist, und versuchte – vergeblich – den Arzt noch einmal ans Telefon zu bekommen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass es erst der Anfang einer ganzen Karawane von Ticks sein würde, die fortan in ununterbrochener Folge durch unser Heim marschieren sollte. Sie kamen, sie blieben eine Weile, um uns zur Verzweiflung zu treiben, sie gingen wieder, keine Ahnung, wohin.
    Die Kügelchen waren daran vermutlich ganz und gar unschuldig. Eher war es schon so, dass Simon darauf zu reagieren begann, dass er langsam zu einem »Problemfall« wurde, den man von Pontius zu Pilatus schleppte, über den man mit ernster Miene sprach, dessentwegen gesonderte Sprechstunden abgehalten wurden und der in eine Therapie sollte.
    Finger- und Fußnägel allerdings hat Simon schon immer abgekaut, die ersten Jahre seines Lebens musste ich die niemals schneiden. Und auch der »Darf ich«-Terror war älteren Datums. Der ging so, dass bei jeder noch so lächerlichen Aktivität vorher die Frage »Darf ich?« gestellt wurde. Worauf man mit einem lauten »Ja« zu antworten hatte, gerne mehrmals. Diesen Segen forderte Simon selbst, wenn er im Familienkreis vor dem Teller mit Mittagessen saß, alle die Löffel schon gehoben und sich einen guten Appetit gewünscht hatten. Ohne »Darf ich?« – »Ja, du darfst!« führte Simon den Löffel nicht zum Munde. Nächster Löffel, nächste Frage. »Ja.« – »Ja, du darfst!« – »Ja, jetzt iss endlich!« – »Ja, Himmelhergott noch mal.« Auch das ist vorbei, ich weiß gar nicht, seit wann.
    Das Wischen nach dem Arztbesuch wurde abgelöst vom unauffälligeren Schulterhochziehen. Eine Weile hat er den ganzen Tag absichtsvoll gehustet. Dann wieder wurde das Einschlafen dadurch verkompliziert, dass er verlangte, ein Stofftier müsse ihm gegeben, oder nein, doch: weggenommen, nein: wiedergegeben werden, in endlosen Schlaufen. Oder er beharrte, dass an dem Tier irgendetwas gerichtet werden müsse, was beim besten Willen nicht erkennbar war.
    Bei Nervosität fragte er in allen möglichen Lebenslagen, ob der Fernseher aus sei. Seine Socken mussten straff gezogen sein, der Reißverschluss seiner Jacke stets bis ganz oben geschlossen. War er aufgeregt und unsicher, wie etwa beim Laternenumzug, konnten wir das ganze Ereignis damit verbringen, dass wir seinen Ritualen folgten. Diesen Umzug hatte ich aus Sturheit und Routine, und um
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