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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Autoren: Tessa Korber
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sah (»Gott, ist der klein«), was seine Großeltern taten (Oma kochte, Opa räumte auf), was auf dem gemalten Willkommensschild an der Tür stand. Ich erzählte es dutzende Male am Tag, immer mit denselben Worten, wie ein alter Indianer den Mythos von der Entstehung seines Volkes. Im Grunde war es ja auch so etwas Ähnliches. Der Mythos der eigenen Entstehung. Ich glaube, es war sehr wichtig für Simon, diese Geschichten immer wieder zu hören. Er besaß und besitzt nicht unsere Wahrnehmung von Zeit und hat kein Kontinuitätsgefühl für sich selbst. Zeit scheint für ihn nicht zu vergehen, alles ist irgendwie gleichzeitig da. Monate dauerten seine wütenden Versuche, wieder ein Baby zu werden. »Ich will wieder klein sein«, verlangte er, vielleicht, weil er mit drei Jahren wohl zu begreifen begann, dass diese Welt ihn überfordern könnte.
    Es war ein verzweifeltes Begehren. Wir erklärten ihm wieder und wieder, dass die Lebensreise des Menschen unumkehrbar ist, aber er schrie und beharrte. Wir verwiesen in unserer Not schließlich auf Gott im Himmel, der das eben so eingerichtet hatte. Tags darauf mussten wir unseren Sohn vom Dach retten. Er war aus dem Dachfenster hinaus auf die Ziegel geklettert, schon auf halbem Weg zum First, um in den Himmel zu gelangen und mal ein Wörtchen mit diesem Gott zu reden.
    Simon war ein bildhübsches Kind, von Anfang an: blond, proper, mit riesigen, fast überwachen blauen Augen, die von Wimpern beschirmt wurden, deretwegen sich ältere Damen entzückt über seinen Kinderwagen neigten. Er war verschmust, fröhlich, seine tägliche Babymassage genießend, ein begeisterter Esser, der sich prächtig entwickelte, altersgerecht saß, krabbelte, lief, brabbelte und zu reden begann. Mit eineinhalb Jahren stand auf seiner Wörterliste: Ja, Nein, Mama, Papa, Okay, Hallo und Tschüs. Wasser, Flugzeug, Pipi und Wauwau konnte er ebenso sagen wie Tiger, samt dazugehörigem Gebrüll. Blume, Affe, Prost, Mist, Licht, Ball, Nase und Haare waren im Angebot, auch Ohr, Bauch und Bein. Daneben die üblichen Iahs, Muhs, Brummbrumms und Hüs.
    Auf allen Bildern, die es von ihm aus dieser Zeit gibt, und es gibt viele, strahlt er wie der kleine Sonnenschein, der er war. Alles Friede, Freude, Eierkuchen in unserem dörflichen Reihenhausidyll.

Weil nicht sein kann …
    Heute frage ich mich manchmal, ob sich in diesen ersten drei Jahren des Glücks wirklich nichts angedeutet hat. Simon und ich besuchten eine private Krabbelgruppe, eine Art Überlebensprojekt vier junger ehemals berufstätiger Mütter, um etwas Abwechslung im Dorfsumpf zu haben. Dort erlebte ich immer wieder, dass wir ein wenig anders waren als die anderen. Simon krabbelte zwar munter, aber nie dorthin, wo die anderen Kinder spielten. Er wollte sich nicht mit ihnen knäueln, verließ sofort jedes Spielgerät, das jemand anderes ebenfalls begehrte, und wollte, als er größer wurde, oft vor der Zeit nach Hause. Würde man die anderen Frauen fragen, würden sie vermutlich sagen, dieser Simon, das ist damals schon ein Komischer gewesen. Aber ich fragte sie nicht.
    Da ich mich in diesen Mütterwelten mit ihren ewig gleichen Gesprächsthemen, die ich beim ersten Kind schon überhatte, ohnehin nicht sonderlich wohl fühlte, gab ich Simons Wegstreben ganz gerne nach. Waren wir eben anders, er und ich. Damit hatte ich schließlich Erfahrung.
    Zum einen war schon Jonathan so einer gewesen – lieber für sich, kaum Freunde, nur solche, die ihn massiv erwählten, und auch dann jeweils nur einen –, ohne Durchsetzungsfreude und ohne Spaß an Menschenmassen. Mit fünf Jahren hatte er mal einen Ausbruch: »Erst Kindergarten, dann Schule. Sein Leben lang geht man in doofe Häuser.« Wenn er aus der Schule kam, brauchte er bis zu eine Stunde allein in seinem Zimmer, um Murmeln zu rollern und wieder runterzukommen. Einladungen und Übernachtungen bei Freunden erschöpften ihn stark. Noch am Gymnasium wurde er regelmäßig bei Fahrten ins Schullandheim oder ins Skilager krank, die Pausen verbrachte er am liebsten in der Bibliothek, und es dauerte lange, bis er sich von seiner Familie auf eine Peergroup umorientierte.
    Später, als wir wussten, was Autismus ist, hat Jonathan sogar von sich aus den Wunsch geäußert, auf Asperger getestet zu werden, eine Autismusform, die mit normaler bis hoher Intelligenz
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