Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Autoren: Tessa Korber
Vom Netzwerk:
seltsam, reinste dadaistische Prosa. Das Seltsamste aber war wohl, dass Simon die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal fragte, was ich da tat, weshalb ich ihm dauern folgte oder warum ich ihm ein Mikrophon hinhielt. Falls er es überhaupt zur Kenntnis nahm, irritierte es ihn offenbar nicht im Geringsten.
    Reale Menschen kamen in diesen Erzählungen übrigens nicht vor. Eine der wenigen echten Personen, Janek, ein Kindergartenkind, wurde hartnäckig ein »Karnickel« genannt. Die anderen »gibt es nicht«, »sind nicht echt«, sind »Marionetten« oder »Handpuppen«. Simons Version seines ersten Lebenstages ging so: »Ich lag auf dem Sofa, davor standen zwei Puppen, das wurden meine Mutter und mein Vater.«
    Simon besaß ein Riesenrepertoire von Bilderbüchern, das war meine Schuld, ich liebe sie einfach, hatte schon Jonathan ganz viele angeschafft und wäre zweifellos zur Sammlerin geworden, wenn ich mehr Geld besessen hätte. Bilderbücher sind etwas Wunderbares.
    Auch Simon schien anfangs ein Büchernarr zu sein. Er kannte viele Passagen auswendig. Nun allerdings ließ er sich nichts mehr vorlesen, er »las« selber, das heißt: Er blätterte, memorierte laut den Text, so weit er ihn kannte, ersetzte dabei Lücken durch Nonsenstext oder dekonstruierte den Inhalt komplett.
    Heute, fünf Jahre später, weiß ich, dass Simon tatsächlich lesen kann, vermutlich sogar ein fotografisches Gedächtnis hat, dass er aber, wie viele Autisten, nicht laut wiedergeben kann, was er liest. Ebenso wenig wie er zu formulieren vermag, was er denkt. Heute also glaube ich, er ließ sich nicht mehr vorlesen, weil es ihn langweilte, weil er das ganze Zeug bereits selbst lesen konnte. Nur laut zu lesen, das wollte und wollte ihm nicht gelingen. Aber wie weit war ich damals von einer solchen Erkenntnis entfernt!
    Ganz selten hatte ich das Gefühl, dass er sich spontan zu etwas äußerte. Einmal etwa holte er sich andere Cornflakes als die, die ich ihm hingestellt hatte, und sagte dazu genussvoll: »Jetzt gibt’s was Gutes.« Oder er antwortete – als er wieder bereit war, Musik zu hören – auf meine Frage, ob das Lied denn schön sei, mit einem leise geflüsterten, andächtigen »Ja«. Solche Aussagen waren ganz besondere Ereignisse für uns. So kostbar, dass ich sie immer noch erinnere. Mein Kind war in einem Raum, in einer Welt mit mir. Es war da.
    Manchmal allerdings beschlich mich das Gefühl, dass Simon gar nicht wusste, wozu Sprache da ist: nämlich, um seine Seele auszudrücken. Oder dass er sich das nicht traute. Mich mit seinen Spielchen nur beschäftigte und davon ablenkte. Oder dass die Spiele eben sein Versuch waren, in Kommunikation zu treten. Ich wusste nicht, was ich denken sollte, es war ein vages Gefühl. An manchen Tagen hätte ich schreien können vor Frustration. Manchmal dagegen, wenn wir unsere Sprachspiele spielten und dabei lachten, wenn ich sah, wie er auf seinen Bruder zuging und ihn aufforderte mitzumachen, dann dachte ich auch: Was will denn die Welt von uns, das ist doch ein glückliches Kind.
    Im Kindergarten herrschte vorerst Frieden. Simon war von zwei älteren Jungen »adoptiert« worden; sie waren sechs und sieben Jahre alt, kümmerten sich rührend um ihn, spielten mit ihm, führten ihn mir entgegen, wenn ich ihn abholen kam, und erklärten mir, was und wie viel er gegessen hatte. Der eine von ihnen war Asthmatiker, und ich denke, er hatte ein Gespür für Schwäche und Außenseitertum. Ich hätte ihn jeden Tag drücken können vor Dankbarkeit. Na bitte, dachte ich, mit Verständnis geht es doch. Wieso bringen die Kindergärtnerinnen das nicht auf, wo es ein Sechsjähriger schafft?
    So verbrachte Simon das restliche erste Kindergartenjahr unauffällig im Windschatten seiner beiden Beschützer. Und ich war dankbar, weiter meinem Beruf nachgehen zu können und wenigstens vier Stunden am Tag nicht mit diesem bedrückenden, alle Kraft verschlingenden Rätsel verbringen zu müssen, meinem Sohn.
    Natürlich verdeckte das nur die existierenden Probleme. Aber wir hofften so gerne. Bewies es nicht auch, dass Simon zu sozialen Kontakten fähig war?
    Trotzdem wusste ich im Grunde, dass es spätestens, wenn Joshua und Konstantin im nächsten Jahr weg wären, weil sie eingeschult wurden, massive Schwierigkeiten geben würde. Diesmal
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher