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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Autoren: Tessa Korber
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konnten wir die Augen nicht mehr davor verschließen.
    Das zweite Jahr begann, wie erwartet, mit einer Krise. Die Hiobsbotschaften häuften sich wieder, ernste Mienen, wann immer ich den Kindergarten betrat. Die Kindergärtnerinnen erklärten, Simon spräche nicht mit ihnen. Er spiele nicht von sich aus, sondern nur, wenn man ein Spiel vor ihn hinstellte, und nur, wenn er es bereits kannte. Wollte man ihm irgendetwas Neues nahebringen, drehte er einfach den Kopf weg. Obwohl er nicht antworte und nicht reagiere, wenn man ihn auffordere, mache er aber alles mit, was die Gruppe täte. Er schien also die Notwendigkeit, sich zu integrieren, zu begreifen, wollte das wohl auch bis zu einem gewissen Grad. Nur interagieren wollte oder konnte er dabei nicht. Er versteckte sich in der Menge.
    Das fiel mir auch bei einem Kinderkonzert auf, das wir besuchten. Er machte zu meiner Überraschung die Gruppenspiele mit, zu denen der Sänger den Saal animierte. Er löste sich sogar, was ich nie erwartet hätte, mitten in dem Durcheinander in dieser vollen Turnhalle von mir, um auf die Bühne zu klettern und dort eine Polonaise mitzumachen. Sein Gesicht allerdings war die ganze Zeit in Panik verzerrt, er hatte sicher keinen Spaß dabei. Als ich ihn jedoch wegholen wollte, machte er sich los und schloss sich erneut dem Kinderzug an. Er hat sich das abverlangt. Was hatte das zu bedeuten?
    Er liege viel auf dem Boden, sagten die Kindergärtnerinnen, und beobachte die anderen Kinder. Er werde manchmal von ihnen geholt, spreche auch mit ausgewählten Kindern ein wenig, ließe sich aber nie lange auf ihre Spiele ein und löse sich bald wieder von ihnen.
    Immerhin, dachte ich, gab es ausgewählte Kinder. Da war etwa Sophia, ein süßes kleines blondes Mädchen, das ganz verrückt nach Simon zu sein schien, ihm über die Wangen strich und seine Hände nahm, um sie mit Küssen zu bedecken. Als wir sie an einem Nachmittag besuchten, verblüffte Simon mich damit, dass er mich in diesem völlig fremden Haus stehen ließ, um Sophia ins Kinderzimmer im ersten Stock zu folgen, wo die beiden auch eine Weile blieben. Die Mutter, mit der ich mich in der Zwischenzeit unterhielt, war freundlich und hielt mich klar erkennbar für überbesorgt. Als ich ihr schweren Herzens erzählte, dass wir für Simon eine Ergotherapie erwogen, fragte sie, wo das Problem sei, ihr größerer Sohn habe auch eine durchlaufen und alles hätte sich wunderbar gegeben. Außerdem spielten die beiden doch so schön.
    Als ich ins Kinderzimmer ging, um mich davon zu überzeugen, sah ich, dass sie keineswegs gemeinsam spielten. Sondern nur nebeneinanderher an einer Eisenbahn herumhantierten, das heißt, Sophia hantierte und plapperte eifrig vor sich hin. Simon hingegen tigerte unruhig durchs Zimmer, wollte schließlich, dass ich ihm ein Bilderbuch vorlas. Nach alles in allem einer halben Stunde verlangte er nach Hause.
    Es war, wie die Kindergärtnerinnen gesagt hatten. Er interagierte kaum. Waren die Kinder bei uns, sprach er nicht und versuchte lieber, mich in ein anderes Zimmer zu ziehen, um mich für sich alleine zu haben. Auch zu gemeinsamen Spielen animiert, blieb er auf Abstand, machte nur neben, nicht mit dem Kind am Puzzle oder der Eisenbahn herum.
    Einmal zeigte er auf ein Besuchskind und spielte eines seiner Sprachspiele: »Ist das ein Taxi?« Er lachte. Wir antworteten: »Nein, das ist der Karim«, und er solle doch mal mit ihm sprechen. Er antwortete: »Ich spreche nicht mit Taxis«, und lachte wieder. Versuche, ihn mit Karim in eine Kaufladensituation zu verwickeln, ließ er erst zögernd geschehen, dann unterlief er sie bewusst, indem er behauptete, »Tralala« kaufen zu wollen. Alles war ab da »Tralala«.
    Wir begannen uns zu fragen, ob unser Kind uns nicht auf den Arm nahm.
    Mit der Ergotherapie, die uns auch die Kindergärtnerinnen nahegelegt hatten, begannen wir Ende November. Nach der ersten Stunde war die Therapeutin sehr zuversichtlich, dass bei dem Kind keinerlei Wahrnehmungsstörungen vorlägen. Und dass die Art, wie er uns ansehe und von uns Aufmerksamkeit fordere, auch nicht auf autistische Tendenzen schließen lasse. Er wirke wach und intelligent. Sie tippte auf eine Verweigerungshaltung, der sie schon beikommen werde.
    Zwei Stunden später korrigierte sie sich. Er ließ Körperkontakt zu, ging mit ihr bereitwillig mit, etwa, um Spiele zu
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