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"ich lerne: gläser + tassen spülen": Briefe 1923?1956 (German Edition)

"ich lerne: gläser + tassen spülen": Briefe 1923?1956 (German Edition)

Titel: "ich lerne: gläser + tassen spülen": Briefe 1923?1956 (German Edition)
Autoren: Bertolt Brecht , Helene Weigel , Wolfgang Jeske , Erdmut Wizisla
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Finnland. Helene Weigel sieht durch die Tbc-Erkrankung Steffins eine Gefahr für die Familie. Sie zieht 1932 mehrmals um und erwägt Ende des Jahres eine Scheidung.

55  1. Januar 1933; A: Berlin, E: Berlin, masch. (Augsb.)
    Liebe Helli,
    ich schreibe, statt zu sprechen, weil das leichter ist, gegen das Sprechen habe ich eine solche Abneigung, das ist immer ein Kämpfen. Für gewöhnlich ist es bei uns so: aus kleinen psychischen Verstimmungen, die viele Ursachen haben können und meist unaufklärbar sind, teils Mißverständnisse zur Ursache haben, teils nur die Müdigkeit oder Gereiztheit, die durch die Arbeit, also von außerhalb kommt, entsteht dann eine große undurchdringliche Verstimmung. Ich komme dann nicht heraus aus einem unlustigen und sicher quälenden Ton und Du machst abweisende oder tragische Gesichter. Ich habe nun oft gemeint, man sollte sich bemühen, das Körperliche nicht nach dem Psychischen zu richten, da es die naivere und unbelastetere Verständigung ergibt. Und auch ist es fast immer ein Mißverständnis, wenn man das Körperliche (wenn einmal etwas nicht klappt) als Ursache nimmt. Ich weiß von mir, daß ich Dir immer nah stehe darin, auch über Verstimmungen hinweg, auch während derselben. Wenn es nicht so scheint, vergiß nicht, ich lebe gerade (und meistens) in schwieriger Arbeit und schon dadurch ohne rechte Möglichkeit, mimisch usw. mich auszudrücken, und fürchte Privatkonflikte, Szenen usw., die mich sehr erschöpfen. Nicht aber lebe ich ausschweifend. Davon ist keine Rede. Ich weiß, daß fast alle Leute darauf bestehen, den Tag ihrer Geburt ausdrücklich zu feiern, wenn sie gehen, sich ausdrücklich zu verabschieden (auch wenn es nur für Stunden ist), wenn sie kommen, sich ausdrücklich zu begrüßen, wenn sie sterben, ausdrücklich letzte Worte zu sprechen, wenn sie etwas auf dem Herzen haben, es sich ausdrücklich vom Herzen zu reden, wenn sie fröhlich sind, es zu betonen, ebenso wenn sie mißgestimmt sind, kurz, allesausdrücklich zu erledigen, in Worten festzuhalten, Punkte zu setzen, neue Sätze mit großen Buchstaben anzufangen – auch wenn sie wissen, daß es gar nicht in ihrem Interesse noch Wunsch liegt, etwas wirklich zu verändern. Es ist so allgemein, daß man es wirklich nicht jemand vorwerfen kann, wenn er das gewohnt ist, aber anders wäre es viel angenehmer. Was meinst Du?
    b. 1
 
    1
 
Die Datierung dieses Briefes stammt von einem dem Original beiliegenden Zettel, dessen Herkunft und Verfasser unbekannt sind. Auch fünf weitere Briefe sind so datiert.

57  2. Januar 1933; A: Berlin, E: Berlin, masch. (Augsb.)
    Liebe Helli,
    wir sollten nicht ohne jeden Sinn eine nicht nötige Kluft unnötig verbreitern. Wie ich Dir sagte und wie ich es auch meinte, war die Unterbringung der Grete eine rein praktische Frage. 1 Es handelte sich keinen Augenblick darum, sie in der Nähe zu haben, sondern sie unterzubringen. Viel lieber wäre es mir gewesen und viel praktischer wäre es gewesen, wenn Du sie wo untergebracht hättest – zunächst war ja ihre Krankheit nicht ansteckend. Aber auch jetzt noch würde ich Dir vorschlagen, mir ihre Unterbringung in der Hardenbergstraße nicht vorzuwerfen, sondern dabei zu helfen, wenn es nötig werden sollte, sie wieder wo unterzubringen. Sie liegt in der Charité und soll dann nach Rußland, in die Krim. In die Hardenbergstraße kann sie nicht zurück, weil es ungesund für sie und gefährlich für mich wäre, aber wie Du weißt, möchte ich ihr gern helfen (es dürfte nur eben nicht zu viel kosten). Und vielleicht muß sie zwischen Charité und Krim noch einmal wo wohnen. Wo?
    Liebe Helli, Du solltest daraus keine große Sache machen. Ich habe einen großen Widerwillen dagegen, mich von Klatsch und Rücksicht auf die Phantasie einiger Spießer beeinflussen zu lassen, das weißt Du. Aber ich habe Dich gern und nicht weniger als je.
    b 2
 
    1
 
Margarete Steffin wohnt seit dem 29. September 1932 in der Hardenbergstraße 37 in unmittelbarer Nähe der Brecht-Wohnung (Hardenbergstraße 1a). Helene Weigel meldet sich am 1. April 1932 polizeilich in Zehlendorf, Am Hegewinkel 118, von dort meldet sie sich am 1. Juni 1932 nach Unterschondorf ab. Vom 10. Oktober 1932 an ist sie in Berlin, in der Leibnizstraße 108, gemeldet.
2
 
Datiert durch Notiz auf beiliegendem Zettel.

Nachdem mehrere Aufführungen von Brechts Stücken durch Nazis gestört wurden, sieht sich die Familie bedroht und flieht am 28. Februar 1933, am Tag nach dem
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