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"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)

"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)

Titel: "Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)
Autoren: Susanne Mahlstedt
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Jahren, elf Monaten und fünfzehn Tagen schreibe ich für Professor Weber einen Aufsatz über das Laufen, der ein bis zwei Seiten umfassen soll – und der leider viel zu kurz gerät. Viele Ereignisse meiner bisherigen Laufbiographie, damit einhergehende Veränderungen und Prozesse, Aha-Effekte und magische Momente kann ich gar nicht unterbringen, was allerdings nicht so tragisch ist, da ich alles in einem Wort ausdrücken kann: Grunderneuerung. Einen Einwortaufsatz möchte ich trotzdem nicht abliefern, denn dies wäre literarische Magersucht – außerdem wäre es so interessant wie ein Einminutenlauf an der Spree.
Fitnesstest
    Severin verbrachte die letzten Stunden vor dem Fitnesstest mit seiner Mutter. Wie die meisten Zehnjährigen, die zum ersten Mal am Test teilnahmen, zappelte er herum. Es wäre nichts mit ihm anzufangen gewesen, also waren er und seine Mutter schon Stunden vor dem Termin ins Sportzentrum gekommen. Gemeinsam schlenderten sie durch den Laufpark, der angelegt worden war, um den Kindern die Zeit zu vertreiben. Aber auch den Eltern musste die Wartezeit ein wenig verkürzt werden, weil die Angst, die sie ausstanden, ihre Zeit unfreiwillig dehnte.
    Dem Fitnesstest durfte sich niemand verweigern. Jeder gesunde zehnjährige Junge und jedes gesunde zehnjährige Mädchen musste ihn absolvieren und ihn fortan einmal jährlich wiederholen, auch als Erwachsene blieben sie an den Test gebunden, lebenslänglich, es änderten sich lediglich die Anforderungen.
    Severin wirkte älter als zehn, dies lag einzig und allein an der alten Farbe seiner Augen. Severins Mutter hingegen – in ihren Augen blitzten Kindlichkeit und Jugendlichkeit – sah um zwei Dekaden jünger aus als sie eigentlich war, so dass Mutter und Sohn oft für Schwester und Bruder gehalten wurden und die Mutter sich auf dem Gelände des Sportzentrums dauernd identifizieren musste, weil nur Erziehungsberechtigte die Kinder begleiten durften. Die Aspiranten durften sowohl vor als auch nach dem Test nach Herzenslust im Laufpark spielen, in dem es viele Attraktionen gab. Sehr beliebt waren die Laufstrecken mit Jahreszeitensimulation. Simuliert wurde stets die konträre Jahreszeit: Am 18. August 2059, SeverinsTesttermin, konnten die Kinder auf frisch gefallenem Schnee laufen. Ferner gab es eine metallische Vertikal-Laufebene, auf der man mit Magnetschuhen und einer Spezialausrüstung hoch- und runterflitzen konnte, einen fluoreszierenden Renngarten für jüngere Geschwister, ein mit Temposensoren ausgestattetes Fahrtspiel-Labyrinth – bestimmte Teile des Labyrinths mussten mit einer vorgegebenen Geschwindigkeit durchquert werden, sonst ging es nicht mehr weiter – und Musikbahnen, die in der Abrollphase Töne erzeugten. Manche Kinder beschäftigten sich stundenlang nur mit Musiklaufen.
    Die Hauptattraktion war jedoch eine Lauf- und Sprunghalle mit künstlich herabgesetzter Gravitation. Severin sah sich alles ganz genau an. „Mach doch auch mal was mit“, sagte die Mutter unwirsch, „nächstes Jahr müssen wir hier Eintritt bezahlen.“ „Hhhmmm…“ antwortete Severin. Die Mutter seufzte. „Wir sind ja auch bald dran. Dauert nicht mehr lang“.
    „Aber ich hab meine Hausaufgaben noch nicht gemacht.“ Die Mutter erblasste. „Aber heute hast du frei. Schon vergessen? Komm, Sev, du bist doch gut im Laufen. Du machst deine dreitausend Meter und fertig. Und dann feiern wir, wie ich’s dir versprochen hab, ja?“
    Severin schwieg, blieb einfach stehen und schaute den anderen Kindern beim Spielen zu. Er war ein bockiges Kind. Nie wusste man, woran man bei ihm war und was er als nächstes vorhatte. Die Mutter wurde immer nervöser. „Severin, du wirst uns doch keinen Ärger machen?“
    Severin hob unentschlossen die Schulter und senkte sie wieder, diese Geste hatte er sich erst kürzlich angewöhnt. „Muss ich denn unbedingt laufen?“ Die Mutter zuckte zusammen.
    „Aber das hatten wir doch schon. Die Regierung will, dass wir uns genug bewegen und regelmäßig Sport treiben, damit wir gesund bleiben und der Gesellschaft nicht auf der Tasche liegen… deshalb kommen wir einmal im Jahr hierher. Um zu zeigen, dass wir fit sind. Weißt du, Sev, die Menschen sind eben Faulpelze. Wenn man sie nicht zwingt, etwas für sich zu tun, lassen sie sich gehen, werden dick…“
    „Aber ich bin nicht dick. In meiner ganzen Klasse ist niemand dick.“ Die Mutter rollte mit den Augen. „Weil ihr eben Eltern habt, die auf euch achten.“ „Aber in meiner
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