Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)

"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)

Titel: "Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)
Autoren: Susanne Mahlstedt
Vom Netzwerk:
grundsätzlich ab. Dazu ungewöhnlich schlechteBauchmuskeln. Nicht mal die langsamen langen Läufe liegen mir, zu einem Dreistundenlauf muss ich mich erstmal überwinden. Denn trotz mangelndem Talent und gelegentlich abnehmendem Trainingsfleiß will ich 2007 in Berlin mitlaufen. Nicht nur am Rand stehen. Schon die Vorbereitung hat einen konkreten therapeutischen Nutzen für mich: die Befreiung vom Makel der Unsportlichkeit – nach der vorausgehenden Befreiung vom Makel der Unansehnlichkeit. Beim Training durchlaufe ich alle möglichen Erinnerungen und Gefühlszustände, gelegentlich treffe ich mich dabei selbst, wie ich früher war, und kann es nicht fassen, dass ich ich bin.
    Mit 37 Jahren wage ich mich zum ersten Mal in eine Laufgruppe: eine Frauengruppe, die jeden Samstag im Tiergarten trainiert. Seit zwei Jahren schon erwäge ich eine Teilnahme. Endlich gehe ich mal hin – und bin auf Anhieb völlig begeistert. Von nun an ist samstags Frauenlauftag. Die Mädels sind langsamer, schneller oder gleich schnell wie ich. Einige sind mir sympathisch, andere unsympathisch. Mal sind wir viele, mal nur zu dritt. Das Wetter ist gut oder schlecht. Und nach dem Training jedes Mal so ein archaisches Glücksgefühl! Diese Euphorie kann ich mir nicht restlos erklären. Doch so schön das Laufen in der Herde oder zu zweit auch ist, den größten Teil meiner Laufzeit beanspruche ich für mich allein: um ich zu sein. Um mich zu sortieren. Um abzureagieren und aufzutanken. Um mich für eine Weile weg zu beamen und mit allem verbunden zu fühlen. Um leer zu werden und produktiv nachzudenken. Manchmal laufe ich, weil ich mich mit mir selbst wieder vertragen muss. Beim Laufen kann ich am besten reflektieren, verarbeiten, verzeihen, beten und entscheiden.
    Die Gewichtsregulierung ist längst keine Hauptmotivation mehr, ich kämpfe auch nicht mehr mit den Kalorien. Besonders in intensiveren Trainingsphasen schaltet der Körper selbständig auf gesunden Appetit. Mit der Zeit lerne ich auch einiges über meine Spannungsmigräne, eine besonders hartnäckige Variante, die sich zwar durchs Laufen bessert, aber nicht verschwindet. Die Schmerzintensität geht dauerhaft auf ein niedriges Niveau zurück, die Häufigkeit der Migräne dagegen ist von der jeweiligen Trainingsphase abhängig: je intensiver das Training, desto weniger Schmerztage. Oft lässt sich eine beginnende Migräne durch ein Läufchen abwenden. Wenn nicht, kann ich nach dem Abklingen der meist lang anhaltenden Beschwerden wenigstens wieder ins Leben zurücklaufen.
    Mit 38 Jahren laufe ich meinen zweiten ersten Marathon. Der erste, 2007 in Berlin, war ein Therapieprojekt, eine Wiedergutmachung. Ich lief und lief und lief vorbei an meinen fetten Jahren. – Das ist nun abgeschlossen. Der zweite Marathon, 2009 in Hamburg, ist gefühlt der erste, weil ich besser vorbereitet bin, mehr Kilometer genießen kann, länger im Pulk laufe, mehr wahrnehme – zum Beispiel die Kilometerschilder –, schneller laufen kann und eine Dreiviertelstunde früher ankomme. Der Hamburg-Marathon ist eine Belohnung, keine Rückschau mehr. Nebenbei feiere ich mein zehnjähriges Laufjubiläum: Ich bin eine frischgebackene Läuferin, die seit zehn Jahren läuft.
    Zwischen Berlin 2007 und Hamburg 2009 liegt der Berlin-Marathon 2008, den ich nicht mitlaufe, nicht mitlaufen wollte („ein Marathon reicht“) und diesmal auch gar nicht schaffen würde, aber zum Schuhkauf nutze: Auf der Berlin Vital beneide ich alle Startnummernabholer,Läufer und Läuferinnen, Walker, Skater, Rollis, Mini-Marathonis und Bambini um ihre Startnummern. Ganz unvermutet überkommt mich das Verlangen nach einem Kleiderbeutel. Mein nicht existierender Kleiderbeutel bringt mich dazu, über lange Winterläufe im Matsch ganz neu nachzudenken… und sie schließlich wieder ins Programm zu nehmen.
    Erst nach dem Hamburg-Marathon behalte ich die Dreistundenläufe um ihrer selbst willen im Repertoire, weil ich den Eindruck habe, dass sie Eigenschaften fördern, die in meinem Charakter eher unterrepräsentiert sind, so zum Beispiel Willensstärke, Durchhaltevermögen und Ausgeglichenheit. Außerdem geht ein Dreistundenlauf nun viel schneller rum als früher, macht mir körperlich und psychisch nicht mehr soviel aus. Auch Regenläufe machen mir weniger aus, noch vor zwei Jahren habe ich aus anderem Material bestanden. Was sich nicht geändert hat: Nach wie vor graut mir vor Intervalltraining und Sportplätzen, die ich fleißig meide.
    Mit 38
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher