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"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)

"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)

Titel: "Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)
Autoren: Susanne Mahlstedt
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ganzen Schule ist niemand dick. Eigentlich kenne ich in der ganzen Stadt niemanden, der dick ist.“ Severin starrte die Mutter trotzig an. Bevor sie etwas erwidern konnte, kam eine Stewardess, um Severin abzuholen.
    Alle Stewardessen trugen die gleichen hautengen grauen Overalls, die ihre Körper stromlinienförmig umschlossen. Überall auf dem Gelände liefen solche grauen Stromlinien herum. „Wir müssen zur Halle 19“, sagte die Stewardess zur Mutter, „bis zum Eingang dürfen Sie Ihren Sohn begleiten, danach bleiben Sie bitte zurück…“
    Und zu Severin gewandt: „… und natürlich werde ich dir alles zeigen und erklären. Du darfst dich einlaufen, wenn du möchtest, oder etwas trinken, oder auf die Toilette. Wir fangen erst an, wenn du soweit bist.“ Und wieder zur Mutter: „Sie müssen entschuldigen, dass Siewährend des Tests nicht anwesend sein dürfen, aber erfahrungsgemäß verunsichern die Eltern ihre Kinder nur.“
    Zu dritt verließen sie den Laufpark und gelangten auf den Teil des Geländes, der nur in Begleitung einer Stewardess betreten werden durfte. Hier fanden die Tests für alle Altersgruppen statt, teils draußen, teils in klimatisierten Hallen. Für alle Distanzen gab es Spezialbahnen mit Bodenbelägen, die auf die jeweilige Lauftechnik und Länge abgestimmt waren, zum Beispiel betonharte 100-Meter- Bahnen aus Kunststoffen, die im Labor speziell für die Bedürfnisse von Sprintern entwickelt worden waren. Noch aufwendiger konstruiert waren die federnden Bodenbeläge der Mittelstrecken, sie bestanden aus mehreren Schichten neuartiger Kunststoffe und gentechnisch manipulierter Naturstoffe. Veraltete Asche- und Tartanbahnen gab es auch. Am aufwendigsten war die Marathonbahn von 4,2195 Kilometer Länge, die als bauchige Acht konstruiert und mit einem schwingenden hölzernen Unterbau versehen war – einmal im Leben musste jeder gesunde Erwachsene hier zehn Runden absolvieren. Severin war davon noch weit entfernt, er sollte lediglich dreitausend Meter ablegen. Zehnjährige Jungen mussten die Distanz in zehn bis achtzehn Minuten laufen können.
    „Was, wenn ich nicht schnell genug bin?“ fragte Severin. Während die Mutter erstarrte, winkte die Stewardess ab. „Das ist schon lang nicht mehr vorgekommen. Du schaffst das schon… so, und jetzt verabschiede dich. Severin ignorierte die Anweisung und marschierte durch das Tor ohne sich umzusehen. Seine langen blonden Haare waren so zerzaust, als wäre er schon gerannt. Seit seinem achten Lebensjahr weigerte er sich, sie abzuschneiden, zu binden oder auchnur zu kämmen. Die Mutter sah Severin lange nach und versuchte das ungute Gefühl, das sie befallen hatte, wieder abzuschütteln. Im Grunde fand sie den Fitnesstest richtig. Seitdem in den zwanziger Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts der Bewegungskodex eingeführt worden war, waren kardiovaskuläre Erkrankungen und Diabetes mellitus um 90 Prozent zurückgegangen, Schlaganfälle um 75 Prozent, Depressionen um 50 Prozent. Auch die Krebsrate war drastisch gesunken. 91 Prozent der Erwachsenen waren nun körperlich aktiv statt dreizehn Prozent wie noch vor fünfzig Jahren.
    Der Bewegungskodex hatte die Gesellschaft von den gigantischen Kranken- und Pflegekosten befreit. Die Mutter verstand nicht, wenn aufgebrachte Bürger die Regierung als Bewegungsfaschisten beschimpften – ihrer Meinung nach gab es nichts Faschistoides an der Verpflichtung zur Bewegungsaktivität. Ihre Anspannung ließ allmählich nach. Zum Zeitvertreib ging sie ihren eigenen Trainingsplan durch, den sie nach der letzten sportmedizinischen Untersuchung erhalten hatte: diese Pläne wurden zweimal jährlich individuell für jeden ausgestellt. Sogar Krebspatienten erhielten Pläne, sie trainierten lediglich auf einem anderen Level. Obligatorisch für alle war das Ausüben einer Ausdauersportart.
    Die Mutter rechnete noch nicht mit einem Ergebnis, als eine der Stewardessen unvermutet vor ihr stand. Die Stimme der Stewardess klang kalt. „Frau Xandri? Ihr Sohn Severin Xandri, Identifikationscode XS 1404 Qw2m 2059, hat den Test beendet. Das Testergebnis lautet: 3000 Meter in acht Minuten und 38 Sekunden… Sie verstehen? Er hat die von der Regierung vorgegebene Zielzeit um 82 Sekunden unterboten… Sie verstehen? Mehr als eine Minute zuschnell… Es tut mir leid, aber die schmerzlose Exekution ist bereits eingeleitet worden.“



 
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