Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
Vom Netzwerk:
sei alles, was wir Leben nennen oder gar Wiederbelebung, denn anders sei Revitalisierung nicht zu verstehen, ein einziges groteskes Mißverständnis.
    Deshalb gehe er am liebsten auf Friedhöfen spazieren. In Wien zum Beispiel auf dem St. Marxer Friedhof. Der St. Marxer Friedhof sei ihm der liebste Ort. Wien sei ja tot, so Bernhard (»Denken Sie nur an den Ersten Bezirk!«), aber die Toten seien überall viel zu laut (»Wien – naturgemäß ein einziger Zombietanz!«). Auf dem St. Marxer Friedhof aber finde er Ruhe, Konzentration und vor allem die heitere Gelassenheit des Lebenden.
    »Warum heiter?«, wagte der Presse-Interviewer zu fragen.
    Weil er unerkannt zwischen Vergessenen spaziere, auf deren Grabsteinen »unvergessen« stehe. Und, viel wichtiger: »Die Inschriften auf den Grabsteinen des St. Marxer Friedhofs ersetzen die gesamte österreichische Literatur seit Grillparzer«, so Bernhard.
    Ich war jung und beeindruckbar. Ich fuhr zum St. Marxer Friedhof. Hunderte Menschen flanierten über die Kieswege, musterten neugierig die anderen, hielten Fotoapparate bereit, rempelten im Gedränge einander an, grüßten, plauschten, lasen die Grabsteininschriften, zitierten Thomas Bernhard, riefen einander Scherzworte zu.
    Bernhard hatte den St. Marxer Friedhof revitalisiert.
    Der Graben soll an diesem Tag menschenleer gewesen sein.
    Im Grunde, so Bernhard, ein einziges groteskes Mißverständnis.
    Es wäre fast in Vergessenheit geraten.
     
     

 
    II.
     
    Ich habe sehr lange nicht begriffen, was der Tod ist, vor allem, dass er nicht nur »Nicht-mehr-Sein« bedeutet, sondern bleibender Verlust, mehr noch: Zerstörung und Verwüstung im Leben. Das hatte mit Onkel Alfred zu tun, damals der Lebensgefährte meiner Großmutter, bei der ich, nach der frühen Scheidung meiner Eltern, die Kindheit verbrachte. Onkel Alfred war Steinmetz, er arbeitete bei den »Schremser Granit-Werken«, ganz im Norden Niederösterreichs, hart an der tschechischen Grenze, die damals »Eiserner Vorhang« war, weshalb die Region »totes Eck« genannt wurde.
    Onkel Alfred fand es unerträglich, dass er als Steinmetz -Meister sein Brot mit dem primitiven Brechen von Granitblöcken verdienen musste, noch dazu untergeordnet einem Sprengmeister, der, so Onkel Alfred, keine Ahnung von der Würde und Schönheit des Steins habe. »Sprengen!« Nie wieder in meinem Leben habe ich einen so tödlich angewiderten Gesichtsausdruck gesehen wie den von Onkel Alfred, wenn er »Sprengen!« sagte. Stein verdiene alle Zärtlichkeit, ihm selbst habe man als Lehrbub noch beigebracht, wie man Stein mit Weidenruten brechen könne, nur mit Weidenruten! Heute sei diese sanfte Technik vergessen! Stein sei die Verdichtung von einer Million Jahre Leben, sagte Onkel Alfred, im Grunde das Ewige Leben, es gebe kein anderes.
    Sein unerfüllter Traum war es, einmal die Pyramiden zu sehen, aber für eine Ägypten-Reise reichte sein Geld nie. (Oma war schon froh, dass er sie einmal auf einer Reise nach Mariazeil begleitete.) Man könne sich heute an die ägyptischen Könige erinnern, habe sie gleichsam vor Augen, so Onkel Alfred, nicht wegen der Salben, mit denen sie eingeschmiert, nicht wegen der Bandagen, mit denen sie eingewickelt wurden, sondern wegen des Steins. Weil sie aus dem Naturwunder Stein das Weltwunder Pyramide errichten ließen. Was bitte sei eine Mumifizierung im Vergleich zu einer Petrifizierung?
    Onkel Alfred investierte jeden Schilling, den er erübrigen konnte, und jede freie Stunde in seine »eigentliche Arbeit«, der er nach der Lohnschinderei im Steinbruch nachging, in sein Lebensprojekt, sein Monument des ewigen Lebens: ein Werk, das, über seinen Tod hinaus, unverwüstlich zeigen sollte, wie er den Stein beherrschte – und wie er sich zugleich demütig der Herrschaft des Steins unterwarf. Er hatte auf dem Friedhof von Langegg bei Schrems ein Grab gekauft, und dort errichtete er sein Haus. Ursprünglich hatte er bloß eine Gruft geplant (»Weil auf mich soll einmal keine Erde kommen!«), für die er Stein um Stein so lange bearbeitete, bis sie nachgerade fugenlos aufeinanderpassten und ohne Mörtel (»Pick«, sagte er) wieder zu einem erratischen Ganzen zusammenwuchsen. Alle paar Wochen nahm er vom Steinbruch einen Block mit, den er in seinem Renault-4-Kastenwagen zum Friedhof transportierte und dort mit Hammer und Meißel so lange »streichelte«, bis er sich in die anderen »einschmiegte«. Er arbeitete, wann immer er konnte, auf dem Friedhof, nach
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher