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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
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Aufbahrungshalle hielt Werners Doktorvater, Professor Benedikt, eine Rede, die mein Leben – nicht veränderte, aber immerhin meinen stummen Lebensfilm zu diesem Zeitpunkt vernünftig untertitelte. »Man kann«, sagte er, »ein Leben, zumal ein so kurzes, nicht phänomenologisch analysieren. Es ist eine Erscheinung, ohne dass ein Sinn feststellbar wäre in seinen Zusammenhängen mit anderen Erscheinungen und am Ende dem Tod!«
    Es kam zu Unruhe. Manche riefen: »Lauter!« Die Akustik in der Aufbahrungshalle war sehr schlecht. Und Professor Benedikt senkte den Kopf ganz nahe an das Mikrophon und sagte – in übersteuerter Überlautstärke, als spräche ein Gott mit Donnergewalt: »Im Einzelnen waltet der Zufall, im Ganzen allein der Sinn …« – Er machte eine Pause und fügte hinzu: » … oder, wie in bestimmten historischen Epochen, auch hier die Sinnlosigkeit!«
    Ich ging. Der Kiesweg des Zentralfriedhofs. Die Alleen der Steine. Ich wusste, dass eine Epoche zu Ende war: die der weltgeschichtsgesättigten Psychosomatiker. Damit war auch mein Philosophiestudium beendet.
    Was tun? In Deutschland waren einige Achtundsechziger zu Kaufhausbrandstiftern geworden – und ich begann in Wien in einem Kaufhaus zu arbeiten! Auch das war eine Folge von 1968: der Anstieg der Ladendiebstähle in solchem Ausmaß, dass Kaufhausdetektive angestellt werden mussten. Ich hatte keine Qualifikationen außer einem abgebrochenen Philosophiestudium mit einer unvollendeten Seminararbeit über die »Dialektik der Aufklärung«, und Kaufhausdetektiv war unter den Jobs, die man mir anbot, der einzige, den ich mir körperlich zumuten wollte. Ich weiß nicht, was ich bald als trostloser empfand: die Auseinandersetzungen mit den kleinen Ladendieben, die ich ertappen und abliefern musste, um meinen Job zu behalten, oder die Gespräche mit den Verkäuferinnen, wenn ich aus Mitleid wieder wegschauen wollte. Elend und Borniertheit hielten sich dabei in einer so perfekten Weise die Waage, dass ich den Eindruck hatte, dass es doch eine geheime Weltordnung geben müsse.
    Als ich kündigte, hatte ich erstmals eine Qualifikation: ein Jahr Berufserfahrung als Detektiv. Das genügte damals, um eine Anstellung bei der Polizei zu bekommen, im Innendienst, Falschgelddezernat, wo ich mit einer Automatik, der ich mich lethargisch ergab, durch regelmäßige Vorrückungen eine erstaunliche Karriere machte – die mir übrigens in meinem sozialen Leben überraschenderweise nicht schaden sollte: Als ich Polizist wurde, war ich sicher, nun von meinen alten Freunden verachtet und gemieden zu werden. Tatsächlich aber wurde ich von den Helden der Studentenkämpfe bereits beim zehnjährigen Jubiläum von 1968 als Beispiel dafür gefeiert, dass der Marsch durch die Institutionen in Österreich besonders geglückt sei. Das ging beim fünfzehn- und zwanzigjährigen Jubiläum so weiter, die Geschichte wurde fast schon zu einem Heldenepos. Was sie alle nicht wissen konnten, war, dass ich mich bewusst um einen Dienstposten im Falschgelddezernat beworben hatte, weil ich einen Arbeitsplatz wollte, der mich möglichst nicht mehr behelligte. Bekanntlich gab es in Österreich kein Falschgeld. Wer die Mittel und Möglichkeiten hatte, gut gemachte Blüten herzustellen, verschwendete seine Zeit nicht mit Schilling, sondern produzierte gleich D-Mark.
    Ausschlaggebend dafür, dass ich an einen Schreibtisch im Staatsdienst wechselte, war also keineswegs die Illusion, dass ich von dort aus irgendetwas verändern könnte: die Welt, die Gesellschaft oder gar mich selbst. Es war einfach ein bezahlter Rückzug.
    Aufklärung war der große Anspruch der Zeit, in der ich erwachsen wurde. Als ich studierte, ging es um nichts anderes: Man musste der Mann sein, der in jedem Fall am Ende Bescheid wusste. Ich sammelte und ordnete Fakten, untersuchte Zusammenhänge, hinterfragte Motive, ging allen Informationen nach, entwickelte Theorien, suchte nach Schuldigen, glaubte, dass ich etwas zu verstehen begann, kam zu einer Lösung. Das nannte man damals Bildung. Die Bildung eines Weltbilds. Wer die Welt von links betrachtete, sah bald nur noch Täter und Opfer, Zeugen und gesetzlose Rebellen. Aber nie hätte ich gedacht, dass ich einmal Polizist werden würde. Hätte ich die Erfahrung gemacht, dass man Fälle wirklich aufklären kann – ich wäre mit Leidenschaft Detektiv geworden, oder zumindest Philosophie-Professor.
    Ich wollte das nicht, aber ich wurde es: abgebrüht. Manchmal, ganz selten,
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