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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
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erlebte ich noch Momente der Leidenschaft, in bestimmten Situationen nippte ich daran wie an einem Glas Champagner, wissend, dass das nicht der Alltag war.
    Ich wurde auf Empfehlung meines Vorgesetzten Mitglied in seinem Tennis-Club, lernte brav das Spiel und war auch hier ohne jeden Ehrgeiz einigermaßen erfolgreich: Ich bekam den Spitznamen »Die Wand«. Ich machte keine Punkte, ich lebte von den Fehlern der Gegner. Ich gewann immer wieder ein Match, bis ein anderer stärker war als ich, einer, der wirklich Punkte machen konnte. Ich lernte im Club eine Frau kennen, die mich dazu verführte, die Leidenschaft neu zu lernen. Ich lernte das Spiel. Ich war »Die Wand«. Doch dann konnte ein anderer bei ihr wirklich punkten. Was von dieser Affäre blieb, war ein Kind. Ein Sohn.
    Ich konnte ihm nicht widersprechen, als er mit achtzehn zu mir sagte, er finde Bullen scheiße. Ich war selbst schuld. Als ich nach seiner Geburt mit seiner Mutter darüber diskutierte, wie er heißen sollte, wollte ich unbedingt, dass er den Namen eines Revolutionärs und Freiheitskämpfers bekam. Da fiel es mir erst auf: dass alle Revolutionäre völlig unattraktive Namen hatten: Karl, Friedrich, Ferdinand, Leo – niemand hätte da an einen Freiheitskämpfer gedacht. Oder Vladimir, Fidel, Che – diese Namen hätten dem Kind nur Gespött eingebracht. Bei einer Tochter hätten wir es einfacher gehabt: Rosa oder Olga. Oder Alice. Aber es war leider ein Sohn.
    Schließlich machte ich mit verzweifelter Ironie einen allerletzten Vorschlag: Zorro.
    Wie kommst du auf Zorro?
    Der letzte Freiheitskämpfer, der mir noch einfällt.
    Freiheitskämpfer? Sagte sie. Im Grunde war Zorro ein Robin Hood.
    Also Robin?
    Robin.
    Es wäre übertrieben zu behaupten, dass ich meine Stelle bei der Polizei aufgab, um Robins Liebe zurückzugewinnen.
    Es war Mitte Dezember 2001, unmittelbar vor der Einführung des Euro. Ich traf Robin zu einem Abendessen.
    Wie geht es dir?
    Geht so.
    Und deiner Mutter?
    Geht so.
    Ich hasse es, wenn jemand so beharrlich wortkarg ist, dass ich mich dazu gezwungen fühle, ununterbrochen zu reden, nur damit jene Peinlichkeit nicht aufkommt – die ich dann durch mein Reden erst recht produziere. Wie er aussah! Eigentlich hätte ich ihn wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot festnehmen müssen.
    Kannst du bitte wenigstens im Restaurant diese Kapuze runternehmen?
    Wen stört’s?
    Mich.
    Er nickte.
    Du bist kein Amt, sagte ich. Ich habe keine Eingabe gemacht, die du jetzt lange prüfen musst.
    Ist ja gut, sagte er und strich die Kapuze zurück. Er saß mit gesenktem Kopf da und sah mich an, als würde er noch immer unter seiner Kapuze hervorschauen. So trotzig von unten herauf hatte auch ich meinen Vater angeschaut, damals, als er mir bei einem Abendessen eröffnete, dass er mein Studium nicht länger finanzieren werde. Da war ich älter gewesen als Robin heute. Aber ich hatte auch nichts zu sagen gewusst.
    Ich sah Robin an, versuchte ein verständnisvolles, komplizenhaftes Lächeln. Wie er schaute! Es machte mich aggressiv. Ich ertrug es nicht. Sein muffiger Blick. Er war kein Rebell. Er war ein blöder Pubertierender, aber aus dem Alter sollte er eigentlich heraus sein.
    Mein Sohn war die Wand, von der mein Missvergnügen zu mir zurückprallte.
    Weißt du, sagte ich, nur um irgendetwas zu sagen: Es gibt Dinge, die kann man nicht machen, wenn man ihre Bedeutung kennt. Ein freier Mann darf zum Beispiel keinen Zopf tragen. Es gibt junge Menschen, die tragen ein Zöpfchen und halten sich für Rebellen. Aber der Zopf war das Symbol für den Adel. Deshalb nennt man ja alles Rückständige »verzopft«. Es war eine der großen Leistungen der bürgerlichen Gesellschaft, dass sie die alten Zöpfe abgeschnitten hat, buchstäblich und metaphorisch, und wer also heute einen Zopf –
    Ich habe keinen Zopf, sagte er.
    Ja. Ich sage nur. Oder Nasenringe. Das geht einfach nicht. Junge Menschen halten das für ein Symbol der Aufsässigkeit, aber es ist ein Symbol der Unterwerfung, es zeigt: Ich bin bereit, mich an der Nase herumführen zu lassen.
    Siehst du bei mir ein Piercing? sagte Robin. Nicht in der Nase, und auch nicht –
    Er streckte die Zunge heraus.
    Ist ja gut, sagte ich. Du verstehst, was ich meine. Wer also kein Bär ist, sollte keinen Nasenring tragen. Was ich sagen wollte –
    Der Kellner brachte die Speisekarten.
    Was ich sagen wollte, ist: Wer nicht beim Ku-Klux-Klan ist, trägt keine Kapuze.
    Wir öffneten die Speisekarten. Ich hatte
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