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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
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an und lachte.
    Ich weiß genau, was du denkst, sagte ich.
    Ist okay, sagte er.
    Als Dessert hatten wir Zitronensorbet. Mit einem Schuss Champagner? Ich hatte erwartet, dass Robin ablehnen würde, aber er sagte: Ja, gerne.
    Endlich schaute er mich an. Dass er mich so geradeheraus ansah, war mir jetzt genauso unangenehm wie sein gesenkter Blick am Anfang.
    Weißt du, worauf ich jetzt Lust hätte?, fragte er.
    Ich sah ihn an.
    Auf einen Bummel.
    Auf einen Bummel?
    Ja. Hast du Lust? Wir gehen durch ein paar Lokale und –
    Er trank den geschmolzenen Rest seines Sorbets.
    Und nehmen überall die Karten mit.
    Die Karten?
    Ja. Die Speisekarten, die Getränkekarten. Und in einem Jahr wiederholen wir diese Runde und vergleichen die Preise.
    Ich musste lachen. Er verarschte mich. Aber ich fand es witzig. Und es wurde witzig. Wir waren wie zwei Detektive, die Beweismaterial zusammentrugen. Gutbürgerliche Lokale bekamen die Aura suspekter Orte. Je später es wurde, desto zwielichtiger wurde das Feld, das wir durchkämmten. Wir sprachen nicht viel. Wir verstanden einander.
    Ein dreiviertel Jahr später nahm ich das Angebot der Polizeidirektion an, mit großzügiger Abfindung und Sozialplan aus dem Polizeidienst auszuscheiden. Bald darauf, im Frühjahr 2003, fand ich eine Stelle bei einer privaten Detektiv-Agentur. Beim fünfunddreißigjährigen Jubiläum von 1968, einer riesigen Party im Wiener Rathaus mit dem Bürgermeister, dem Kulturstadtrat und dem Wissenschaftsminister, wurde ich als Held gefeiert: Ich bediente perfekt die romantischen Gefühle der Alt-Achtundsechziger, die in mir nun eine Art Philip Marlowe sahen, einen Aufklärer im doppelten Wortsinn.
    Bei dieser Feier traf ich die frühere Freundin von Werner. Sie trug eine große rote Brille, durch die Augen voller Melancholie hervorschauten.
    Ich glaube, Werner hätte die Welt heute nicht gefallen, sagte sie.
    Ich weiß nicht, sagte ich. Ich glaube, dass jedem, der lebt, die Welt besser gefällt als einem Toten.
    Robin gründete eine Facebook-Gruppe gegen den Euro-Umrechnungsbetrug, brach bald darauf sein Studium ab und fand eine Anstellung bei der Arbeiterkammer in der Abteilung für Konsumentenschutz.
    Im Grunde ist er eine Art Polizist geworden. Konsumentenschützer. Ich werde das nie verstehen. Ich habe sein Philosophiestudium unterstützt. Aber er ist eine Art Polizist geworden.
    Ich sitze an einem Schreibtisch in der behördlich konzessionierten Detektivagentur Fränzl. Es ist ein grauer Tag, dem Kalender nach ein Frühlingstag, ein Tag im Mai, aber einer von der Sorte, wie es sie in Wien auch im Herbst und Winter gibt. Einer jener Tage, die nicht einmal Liebende euphorisch machen, an denen kein Dichter Eindrücke ausdrückt, an denen diejenigen, die rasch mal Zigaretten holen gehen, wieder träge nach Hause zurückkehren, ein Tag, an dem die grauen Anzüge der Kleinbürger in der grauen Atmosphäre wie Tarnanzüge wirken. Ich tippe den Endbericht eines schon abgeschlossenen Falles, lästige Papierarbeit, die so grau ist wie das Licht hinter dem Fenster.
    Noch sechs Jahre bis zur Rente.

Anekdoten mit Toten
Ein Triptychon
    I.
     
    In einem Interview, das er Ende der siebziger Jahre der österreichischen Tageszeitung »Die Presse« gab, erzählte Thomas Bernhard, dass er bei einem Besuch der Steiermark (»ein Bundesland, das noch deprimierender ist als Kärnten! Andererseits: man erspart sich dort Oberösterreich!«) vom Wirt des »Landgasthofes mit Fremdenzimmern«, wo er »als Fremder selbstverständlich ein Zimmer« genommen hatte, gefragt wurde, ob er »die Presse« zu sehen wünsche. Er habe »naturgemäß« verneint. Der Wirt aber insistierte: Die Presse werde den Gast zweifellos interessieren, sie sei aus dem Jahr 1848 und funktioniere, dank einer beizeiten durchgeführten »behutsamen Revitalisierung« (»Der Wirt«, so Bernhard, »sagte tatsächlich Revitalisierung, noch dazu behutsam – woran ich einmal mehr zu erkennen meinte, welche Verwüstungen Die Presse in den Köpfen der Menschen anrichtet«), bis heute auf die traditionelle Weise, so der Wirt, so Bernhard. Genau dies sei der Grund, so Bernhard zum Wirt, warum er an der Presse nicht interessiert sei. Der Wirt verstand nicht und insistierte weiter – bis Thomas Bernhard begriff, »begreifen musste « , dass mit der »Presse« die alte Kürbiskernpresse gemeint war, mit der der Wirt sein »tatsächlich unvergleichliches« Kernöl produzierte.
    Im Grunde, so Bernhard in diesem Interview weiter,
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