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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
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das Ewige Licht der Toten, in sein Zimmer zu lassen. Er war ein blasser Junge, der im Exil im Dunklen lebte, weil ihm das Licht zu morbid war.
    Im Jahr 1947 ist mein Vater nach Wien zurückgekommen. Er machte den Fehler, den alle machten, die nach 1945 nach Österreich heimkehrten: er verstrickte sich in den Widerspruch, auf einem Leichenberg ein neues, freies Leben aufzubauen. Als im Mai 1967 seine host mother und wenige Monate danach sein host father starben, war er so sehr in die Anforderungen dessen verwickelt, was er als seine Karriere verstand, dass er es »bei aller Liebe«, wie er immer wieder sagte, »nicht schaffte«, zu ihren Begräbnissen nach London zu fliegen. Je älter er wurde, desto öfter betonte er seine Liebe zu den englischen Eltern, und seine Tränensäcke wurden jedes Mal größer, wenn er von ihnen erzählte.
    Wenn ich nach London musste, rief mich mein Vater wenige Stunden vor dem Abflug an und sagte: Highgate! Du weißt, da liegen meine – und nach einer Pause: Eltern.
    Seine Eltern, meine Großeltern, die ich gekannt hatte, lagen auf dem Wiener Zentralfriedhof, aber jedes Mal, wenn ich nach London flog: Highgate. Und nach einer Pause: Eltern.
    Ja, sagte ich. Ja. Immer wieder, vor jeder London-Reise.
    Aber ich fuhr nie zu dem Friedhof. Meine Termine waren immer eng gelegt, und wenn ich doch einmal zwischendurch Zeit hatte, dann wollte ich in die New Tate, da hingen Tote, die mich mehr interessierten, die bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts, oder ich fuhr einfach zur Waterloo Bridge und schaute von der Mitte der Brücke über diese Stadt, die nirgends so schön war, wie sie von diesem Punkt aus erschien.
    Letztens, als ich wieder nach London musste, rief mich Vater an und – Ja!, sagte ich, ja!
    Mach vom Grab der – Eltern ein Foto mit deinem Handy, sagte Vater, und schick es mir.
    Ja, mache ich, sagte ich. Wenn ich Zeit habe.
    Es ist ein Skandal, sagte Vater, dass du noch nie in Highgate warst, wo doch dort –
    Ja, sagte ich.
    Ich will ein Foto!
    Ja
    Ich bin leider so kindisch, dass ich erst dann brav bin, wenn ich dabei das Gefühl habe, ketzerisch und aufsässig zu sein. Als ich in einem Prospekt, der in meinem Londoner Hotel auslag, schlaflos Nüsschen knabbernd, unter dem Titel »sights« las, dass auf dem Friedhof von Highgate Karl Marx lag, beschloss ich, eine Verhandlungspause am nächsten Tag zu nutzen, um endlich diesen Friedhof zu besuchen. Ich nahm noch ein Bier aus der Minibar und grinste bei der Vorstellung, was mein Vater sagen würde, wenn ich ihm von Highgate ein Foto von Karl Marx schicken würde.
    Es war allerdings nicht leicht, das Grab von Karl Marx zu finden. Ich fragte einen Mann, der auf diesem Friedhof unter all den Toten offenbar das Sagen hatte. Karl Marx, sagte er, ja, dort, im Ostteil.
    Ich irrte herum. Las Inschriften auf Grabsteinen. Da sah ich plötzlich einen Grabstein, auf dem stand – mein Name. Ich konnte es nicht glauben. Ich habe einen seltenen Namen. Aber kein Zweifel: Da stand er eingemeißelt auf einem Stein.
    Und mein Vorname.
    Und mein Geburtsjahr. Bindestrich – und dahinter die Jahreszahl des Vorjahres. Ich schaute auf die Erde vor diesem Grabstein. Sie sah frisch aus. Als wäre sie eben erst über einen Toten gescharrt worden.
    Wer lag da begraben? Ich. Am Stand der Informationen: Ich.
    Solange ein Leben am Ende auf einen Namen, zwei Zahlen und einen Strich dazwischen reduziert wird, leben wir nicht in einer Informationsgesellschaft.
    Ich stand auf dem Friedhof von Highgate, irgendwo zwischen Karl Marx und den host parents meines Vaters, und starrte auf einen Grabstein, auf dem geschrieben stand: hier liege ich, hier verwese ich, hier fressen mich die Würmer.
    Mich erfasste große Trauer, aber es war nicht Selbstmitleid. Der Grabstein, auf dem mein Name eingemeißelt war, erlaubte keine Koketterie. Ich erinnerte mich – an ein Leben, das so großartig … und so durchschnittlich war, dass ich nicht wusste, warum mir nun die Tränen kamen. Vielleicht ebendeswegen. Ein Leben, das – ich musste plötzlich lachen – so grotesk in seiner ewig mühsam versteckten Banalität war, dass – und jetzt musste ich weinen. Ich stand vor einem Grab, einem Grabstein, auf dem mein Name stand, und trauerte, wissend, dass ich das nicht war, um mich.
    Eine Frau pflegte das Grab nebenan. Sie sah auf und sagte etwas. Ich verstand sie nicht. Ich fragte nach, sie wiederholte den Satz, ich verstand wieder nicht. Entnervt sagte ich: Yes, indeed!
    Sie
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