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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen
Autoren: Robert Menasse
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Arbeitsschluss im Steinbruch bis Sonnenuntergang und an den Wochenenden den ganzen Tag. Da war Leben auf dem Langegger Friedhof, ein stetes rhythmisches Hämmern – würden auf den Friedhöfen die Herzen unserer Toten in Panik vor der Unendlichkeit schlagen, es würde sich anhören wie Onkel Alfreds Schläge auf den Stein.
    Ich verbrachte damals sehr viel Zeit auf dem Friedhof, leistete Onkel Alfred Gesellschaft, sah ihm zu, half ihm mit kleinen Handreichungen und durfte mich selbst bei einem Block, den er für mich vom Steinbruch mitgebracht hatte, mit dem kleinen »Einser-Meißel« beim »Glätten« beweisen. Auf dem Friedhof erlebte ich meine Kindheit, den Beginn meines bewußten Lebens, des Lebens schlechthin. Und eine Gruft war für mich ganz selbstverständlich etwas, vor dem man steht und nicht zurückdenkt an gewesenes Leben, sondern nach vorne, an den späteren, hoffentlich späten Tod. Damals war ich acht Jahre alt.
    Die Gruft wuchs. Onkel Alfred konnte nicht aufhören. Aus dem kleinen Haus, in dem dereinst sein Sarg und der von Oma stehen sollten, wurde ein Turm. Dann begann dieser Turm sich nach oben hin zu verjüngen und zu einem Spitz zusammenzufügen. Daraufhin begann Onkel Alfred, die Schrägen von oben nach unten zu verlängern. Ich war elf Jahre alt, als ich begriff: Er baut eine Pyramide. Mein Gott, dachte ich, er baut eine Pyramide!
    Das war nicht so einfach. Die Pyramide verlangte eine größere Breite. Dafür musste die bebaute Grundfläche ausgeweitet werden. Er kam in Konflikt mit den Grenzen zu den Nachbargräbern. Die Flächen zwischen Onkel Alfreds Grab und den Nachbargräbern verschwanden unter Steinquadern. Die Primeln auf den Gräbern des Langegger Friedhofs wurden grau von Granitstaub. Onkel Alfred hämmerte, meißelte, schlug und türmte Stein auf Stein, in die Höhe und in die Breite. Er wurde angezeigt.
    Störung der Totenruhe und Besitzstörung, Hausfriedensbruch und Grenzverletzung. Jedes für sich ein schweres Vergehen. In der Kombination und an diesem Ort, dem Friedhof, einzigartig. Langegger Bauern, die regelmäßig nachts Grundsteine um ein oder zwei Meter versetzten, um ein paar Quadratmeter Wiese vom Nachbarn zu stehlen, bekriegten meinen Onkel wegen ein paar Zentimetern Friedhofsgrund. Aber Onkel Alfred war unbeirrbar. Er hämmerte und meißelte immer fanatischer, er wollte Fakten schaffen, und das überzeugendste Faktum ist die Stein gewordene Wucht der Unsterblichkeit. Er wollte auf diesem Friedhof unsterblich werden.
    »So gib doch a Ruh!«, sagte Oma. Und Onkel Alfred: »Für die Ruh hab ich später Zeit!«
    Nach vielen Jahren wurde gerichtlich in letzter Instanz entschieden, die Pyramide müsse beseitigt werden. Es folgte der behördliche Abbruchbescheid.
    Ich war sechzehn Jahre alt, hatte meine erste Freundin, alles schien vor mir zu liegen, das Leben, ein weites Feld, und ich stand mit meiner Freundin händchenhaltend auf dem Langegger Friedhof, als die Planierraupe kam.
    Du hast so harte Hände, sagte Brigitte, Schwielen – in deinem Alter!
    Die Zerstörung seines Lebenswerks, die Verwüstung seiner letzten Ruhestätte, die dieser unermüdliche Mann sehenden Auges mitverfolgen musste, brach Onkel Alfred buchstäblich das Herz.
    Wenn ich heute nach Langegg komme, dann lege ich einen Stein auf Alfreds Grab, einen Erdhügel, und denke an seine schwielige Faust, mit der er sein Leben lang Steine gestreichelt hat, und sage: Alfred, das Leben ist ein noch größerer Irrtum als der Tod.
     
     

 
    III.
     
    Immer wenn ich nach London muss, und ich muss seit einigen Jahren oft nach London, nehme ich mir vor, den Friedhof von Highgate zu besuchen.
    Mein Vater ist im Jahr 1938 mit einem Kindertransport nach England in Sicherheit gebracht worden und schließlich bei Pflegeeltern in Highgate untergekommen. Das Haus habe sich unmittelbar an der Friedhofsmauer des Highgate Cemetery befunden und das Furchtbare, erzählte mein Vater, sei gewesen, dass er während der ganzen Nazi-Zeit, wenn er aus dem Fenster seines Zimmers geschaut habe, nur Tote sehen konnte, also nicht Tote, aber Grabsteine.
    Er sei in die Pubertät gekommen, habe nur an Mädchen gedacht, aber wenn er, wie ein pubertierender Junge es so so tut, mit der Hand im Schritt die erhitzte Stirn im Gefühl tiefer existentieller Unsicherheit an das kühle Fensterglas drückte, dann habe er Tote gesehen, Grabsteine. Er habe daher eines Tages beschlossen, die Vorhänge zu schließen und nie wieder Tageslicht, im Grunde
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