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Ich finde dich

Ich finde dich

Titel: Ich finde dich
Autoren: Harlan Coben
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kleine Sprengsätze. Bum, bum, bum. Mann, was für eine bescheuerte Idee, hierherzukommen. Als der Trauzeuge die Ringe präsentierte, wurde der Druck auf meiner Brust so stark, dass ich kaum noch Luft bekam.
    Genug davon.
    Wahrscheinlich war ich hier, um es mit eigenen Augen zu sehen. Dass das nötig war, hatte ich vor Kurzem auf die harte Tour gelernt. Mein Vater war vor fünf Monaten an einem schweren Herzinfarkt gestorben. Bis dahin hatte er keinerlei Probleme mit dem Herzen gehabt und war auch sonst in guter Verfassung gewesen. Ich weiß noch, wie ich aus dem Wartezimmer in den Behandlungsraum des Arztes gebeten worden war, der mir die niederschmetternde Nachricht übermittelt und mich gefragt hatte, ob ich meinen toten Vater noch einmal sehen wollte. Dasselbe hatte man mich später auch im Beerdigungsinstitut gefragt. Ich hatte Nein gesagt. Wahrscheinlich wollte ich mich nicht an seinen Anblick auf der Bahre oder im Sarg erinnern. Ich wollte ihn so in Erinnerung behalten, wie ich ihn gekannt hatte.
    Im Nachhinein musste ich dann allerdings feststellen, dass ich Schwierigkeiten hatte, seinen Tod zu akzeptieren. Er war so voller Energie, so voller Leben gewesen. Nur zwei Tage vor seinem Tod waren wir gemeinsam bei einem Eishockeyspiel der New York Rangers gewesen – Dad hatte eine Dauerkarte –, das Spiel war in die Verlängerung gegangen, wir hatten gekreischt und geschrien, und – wie konnte dieser Mann plötzlich tot sein? Manchmal fragte ich mich, ob da nicht jemandem ein Fehler unterlaufen war oder ob es sich um einen riesengroßen Schwindel handelte und mein Dad noch irgendwo lebte. Ich weiß, dass das ein unsinniger Gedanke ist, aber die Verzweiflung treibt manchmal seltsame Blüten, und wenn man ihr auch nur den kleinsten Spielraum lässt, fängt die Fantasie an, Alternativszenarien zu entwerfen.
    In gewisser Weise belastete mich also die Tatsache, dass ich die Leiche meines Vaters nicht gesehen hatte. Diesen Fehler wollte ich keinesfalls wiederholen. Aber – um in dem etwas überstrapazierten Bild zu bleiben – diesmal hatte ich die Leiche gesehen. Und es gab keinen Grund, bei ihr noch den Puls zu fühlen oder irgendwie anderweitig daran herumzudoktern.
    Ich versuchte, so unauffällig wie möglich zu verschwinden. Das ist nicht einfach, wenn man ein Meter siebenundneunzig groß und, um es mit Natalies Worten zu sagen, »wie ein Holzfäller gebaut« ist. Ich habe große Hände. Natalie hatte sie geliebt. Sie hatte sie genommen und war die Linien in meiner Handfläche nachgefahren. Sie sagte, es wären echte Hände, Männerhände. Sie hatte sie auch gezeichnet, weil sie, wie sie sagte, viel über mein Leben erzählten, darüber, dass ich in einem Arbeiterhaushalt aufgewachsen war, über den Job als Türsteher eines lokalen Clubs, mit dem ich mein Studium am Lanford College finanziert hatte, und irgendwie auch über die Tatsache, dass ich jetzt dort der jüngste Professor im Fachbereich Politikwissenschaft war.
    Ich taumelte aus der kleinen, weißen Kapelle in die warme Sommerluft. Sommer. War das am Ende vielleicht alles gewesen? Eine sommerliche Affäre? Aber wir waren keine sexhungrigen Jugendlichen in einem Ferienlager, sondern zwei erwachsene Menschen auf der Suche nach Ruhe und Einsamkeit – sie, um sich ihrer Kunst zu widmen, ich, um meine politikwissenschaftliche Dissertation zu schreiben –, die sich kennengelernt und heftig ineinander verliebt hatten, und jetzt, wo es auf September zuging, tja, auch die besten Dinge im Leben gehen irgendwann zu Ende. Unsere ganze Beziehung hatte etwas Unwirkliches gehabt, schließlich waren wir beide aus unseren normalen Leben herausgetreten und hatten damit auch den Alltag weit hinter uns gelassen. Vielleicht waren die Gefühle deshalb so überwältigend gewesen. Vielleicht hatte die Tatsache, dass unser Aufenthalt in dieser Seifenblase abseits der Realität zeitlich begrenzt war, unsere Beziehung besser und intensiver gemacht. Vielleicht erzähle ich hier aber auch nur völligen Unsinn.
    In der Kirche brandete Jubel und Applaus auf. Das riss mich aus meiner Erstarrung. Der Gottesdienst war zu Ende. Todd und Natalie waren jetzt Herr und Frau Stoppelbart. Gleich würden sie den Mittelgang entlangschreiten. Ich fragte mich, ob Reis geworfen werden würde. Nichts für Todd wahrscheinlich. Der Reis könnte seine Frisur durcheinanderbringen oder sich in den Bartstoppeln verfangen.
    Noch einmal: Hier hatte ich genug gesehen.
    Ich ging zur Rückseite der weißen
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