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Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Titel: Ich bleib so scheiße, wie ich bin
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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in sich zusammenfällt, sondern die angebliche Unsportlichkeit gleich mit.
    Auf jeden Fall lassen sich die eigenen Schwächen auch durch die beste Geschichte nicht in den Griff bekommen. Man glaubt zwar, durch die Erklärungen wieder Kontrolle über sein Leben erlangt zu haben, muss aber bald feststellen, dass dies ein Irrtum ist: Wie gut man seine Charakterschwächen auch analysiert und begründet, ändern lassen sie sich dadurch noch lange nicht! Sie scheinen durch die Erforschung sogar noch ins Unermessliche zu wachsen.
    Max Frisch, der sich in seinem Werk mit dem Thema Selbstüberwindung beschäftigt hat, ist mit einer Figur berühmt geworden, der es nicht mehr gelingt, sich mit ihrer Lebensgeschichte zu identifizieren: Der Bildhauer Anatol Ludwig Stiller will das Leben, das er und seine Frau Julika führen, nicht mehr weiterleben und flieht aus seiner Schweizer Heimat in die USA. Nach zwei Jahren kommt er zurück und sagt, als er bei seiner Einreise in die Schweiz verhaftet wird: »Ich bin nicht Stiller.«
    Doch Stiller wird von seiner Umgebung dazu überredet, zu seinem alten Leben zurückzukehren, und natürlich ist bald alles zwischen ihm und seiner Frau so unglücklich und verfahren wie zuvor. Julika konnte ihren egozentrischen Mann nie verstehen und kann es auch jetzt nicht. Stiller glaubt, Julika nicht lieben zu können, und fühlt sich ihr gegenüber dadurch permanent im Unrecht. Beide bemühen sich, den anderen zu verstehen, doch ihr Bemühen ist zum Scheitern verurteilt. Am Schluss kommt es genau zu der Katastrophe, die Stiller eigentlich durch seine Weigerung, Stiller zu sein, vermeiden wollte: Als seine Frau Julika an Tuberkulose erkrankt und operiert werden muss, schafft Stiller es nicht, sie im Krankenhaus zu besuchen, und sie stirbt ganz allein.
Freiheit ist vor allen Dingen die Freiheit
vor der eigenen Geschichte.
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    Die Figur des Bildhauers Stiller verkörpert die tiefe Angst, keine Macht über sich selbst und das eigene Schicksal zu haben. Manchmal ahnt man, dass man mit dem Versuch, sich selbst zu verbessern, seine Lebenszeit verschwendet. Hellsichtige Momente, die sehr schmerzhaft sind, denn gleichzeitig ist man davon überzeugt, dass das Leben nur lebenswert ist, wenn man diesen einen Makel oder diese eine Schwäche besiegen könnte. Aber ist es das wirklich?
    Es ist eine viel bemühte literarische These, dass jeder Versuch, sich zu überwinden, etwas Tragisches hat. Und es ist ganz klar, wie diese Bücher und Filme enden: Der Protagonist entdeckt am Ende seines Lebens, dass es nicht sein Makel war, der ihn unglücklich gemacht hat, sondern einzig und allein sein lebenslanger Versuch, ihn zu bezwingen.
    Es ist an der Zeit, für ganz schwere Fälle von Selbstverbesserungswahn ein Programm anzubieten, welches den Betroffenen hilft, aus ihrem absurden Bemühen auszusteigen. Ich habe einmal versuchsweise den Begrüßungstext für die Homepage dieser Aussteigerorganisation geschrieben. Dafür habe ich lediglich den Text auf der Startseite von Exit – einem Aussteigerprogramm für Rechtsradikale – ein klein wenig verändert. Das Ergebnis ist nicht besonders elegant, aber es ist ja nur ein Entwurf:
»Schluss mit dem Vita-Terror« ist eine Initiative, die Menschen hilft, die mit ihrer alten Lebensgeschichte brechen und sich ein neues Leben aufbauen wollen.
    Zugleich setzen wir uns mit der Vorstellungswelt und dem Verhalten von »Vita-Terroristen« auseinander.
    Dabei stützen wir uns auf die Werte von persönlicher Freiheit und Würde.
    ICH BIN REIN in meine Erfolgs-Terror-Geschichte, weil: ich überzeugt von dem auf Erfolg ausgerichteten Denken und Handeln war.
    ICH BIN RAUS, weil: meine individuelle Freiheit von dem Vita-Terror in Ketten gelegt wurde und vermeintliche Wahrheiten ins Wanken gerieten.
    Wem dieser Vergleich geschmacklos erscheint, der hat die Brisanz noch nicht begriffen, die hinter manchen Lebensgeschichten steckt. Stiller geht zugrunde, weil er davon überzeugt ist, dass er seine Frau nicht genug liebt. Ein Leben lang quält er sich mit Selbstvorwürfen, glaubt gar, an ihrem einsamen Tod schuld zu sein, und seine Umgebung glaubt es auch. (Er hat es ihr ja so erzählt.)
    Die Fragen, die Stiller sich stellen sollte, sind aber nicht, ob er ein Mensch ist, der nicht lieben kann, und woran das liegen könnte. Viel interessanter ist doch die Frage, ob es denn unbedingt nötig ist, seine Frau oder irgendeinen anderen Menschen zu lieben. Wer sagt, dass man einen anderen lieben
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