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Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Titel: Ich bleib so scheiße, wie ich bin
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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bestimmen unser Leben.
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    Die meisten Beschreibungen unseres Charakters sind der Erwartungshaltung unserer Umwelt geschuldet. Wir wollen uns rechtfertigen, warum wir nicht das tun, was von uns verlangt wird, zum Beispiel mehr zu arbeiten und unsere Sexualpartner zu lieben. Wir meinen sogar, dass die Erwartungen der Umwelt berechtigt sind, deswegen sagen wir auch nicht: »Dazu habe ich keine Lust«, oder schlicht und einfach: »Das liegt mir nicht«, sondern wühlen in unserer Vergangenheit nach Gründen, die uns moralisch entlasten: Vielleicht bin ich ja nur so träge, weil ich nicht an mich glaube. Und dass ich nicht an mich glaube, ist die Schuld meiner Eltern, denn sie haben mich als Kind nicht genug gelobt.
    Eine andere, sehr weit verbreitete Rechtfertigungsgeschichte lautet: Ich liebe meinen Partner nicht, weil ich selbst nie geliebt worden bin und daher erst lernen muss, mich selbst zu lieben.
    Dass man sich damit den Blick auf den wahren Charakter seines Partners verstellt, wird in Kauf genommen.
    Es ist anstrengend, ständig das Beste aus sich und seinem Leben machen zu müssen.
    Aber wer so empfindet, mit dem stimmt etwas nicht: Andere betrachten ihr Leben als Herausforderung und gehen mit Freude an die Arbeit, nur wir nicht. Nur wir stopfen das Essen so lieblos in uns hinein, sitzen am liebsten auf dem Sofa, haben keine Lust, ein Musikinstrument zu erlernen, interessieren uns weder für Kunst und Literatur noch für irgendetwas anderes und können die meisten Menschen nicht ausstehen. Nur wir bleiben mit einem Partner zusammen, den wir nicht lieben. Wir werden misstrauisch gegenüber unseren Wünschen und Bedürfnissen, machen sie zu Schwächen und Fehlern. Das nennt man Selbsterkenntnis, und Selbsterkenntnis ist ja angeblich der erste Schritt zur Besserung.
    Doch die entdeckten Charakterfehler entwickeln ein Eigenleben, und wie im Märchen werden sie zum Bann, in den man sich immer tiefer verstrickt, je stärker man versucht, ihm zu entkommen.
Manche dichten sich lieber einen
Charakterfehler an, statt zu sagen:
»Dazu habe ich keine Lust«, oder:
»Den Idioten kann ich nicht ausstehen«.
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    Dass eine Biografie in dem Moment entsteht, in dem man sie erzählt, beschreibt der Philosoph und Pädagoge Professor Jürgen Henningsen in seinem Aufsatz Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte – Max Frisch und die Autobiografie .
    Was an einer Lebensgeschichte stimme, seien lediglich die Rahmendaten, alles andere sei Interpretation. Meistens weiß der Interpret nichts davon, dass er der Erfinder seiner Geschichte ist, kommt sie ihm doch so logisch und überzeugend vor, dass er sie für sein Leben hält.
    Als Beispiel für seine These zitiert Jürgen Henningsen Passagen aus der Autobiografie The Education of Henry Adams, in denen der amerikanische Historiker Henry Adams (1838 – 1918) ein bestimmtes Ereignis in seiner Kindheit zum Schlüsselerlebnis erklärt, welches seiner Meinung nach seine Persönlichkeit und seinen Werdegang geprägt hat:
    Henry Adams, dessen Urgroßvater John Adams und Großvater John Quincy Adams Präsidenten der Vereinigten Staaten gewesen waren, schildert in seiner Autobiografie, wie er im Alter von vier Jahren an Scharlach erkrankte. Im Winter 1842 wird der kranke Henry in Leinentücher gewickelt von einem Haus in ein anderes getragen. Der erwachsene Henry schreibt sechzig Jahre später, dass er den heftigen Schmerz unter den Tüchern, den er durch den Luftmangel verspürte, und den Lärm des Möbelrückens nie vergessen konnte. Es sei diese Krankheit gewesen, welche ihn untüchtig für den Erfolg gemacht habe. Zunächst sei die Beeinträchtigung nur eine körperliche gewesen, so blieb er im Wachstum um sechs bis acht Zentimeter hinter seinen Brüdern zurück. Aber auch sein Charakter und seine geistigen Fortschritte schienen an dieser Schwächlichkeit teilgehabt zu haben. Henry Adams vermutet: Seine zarten Nerven, seine Gewohnheit zu zweifeln und seine Scheu vor der Verantwortung sind auf seine Kinderkrankheit zurückzuführen.
    Jürgen Henningsen betont noch einmal, dass nicht die Krankheit als solche, als factum brutum, sondern die Art und Weise ihrer sprachlich-geistigen Verarbeitung für besagte »Veränderung« des Charakters ursächlich ist. Henry Adams versucht, sich und seinen Lesern zu erklären, warum er der geworden ist, der er ist. Doch worum geht es ihm in seiner Autobiografie wirklich?
    Tatsächlich ist die Lebensgeschichte, so wie sie uns Henry Adams erzählt, eine
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