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Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Titel: Ich bleib so scheiße, wie ich bin
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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denn das richtige Leben für uns ist, können wir uns nicht entschließen, endlich all das, was uns in der Theorie gut und richtig vorkommt, in Angriff zu nehmen.
    Aber eines wissen wir ganz sicher: Eigentlich sind wir nicht die Person, die wir gerade sind, sondern die, die wir sein könnten! Dieser Person, die wir sein könnten, sind wir etwas schuldig – und wir versündigen uns gegen sie mit jedem Tag, an dem wir nicht unser Bestes geben oder es zumindest versuchen.
Eigentlich bin ich dünn –
ich muss nur noch abnehmen.
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    An die Erforschung der Ursachen, warum wir nicht das tun, was wir uns vorgenommen haben, verschwenden wir einen Großteil unserer Lebenszeit. Wir durchforsten unsere Kindheit und die Kindheit unserer Eltern nach Hinweisen darauf, woran es liegen könnte, dass es uns so schwerfällt, uns aufzuraffen und zusammenzureißen. Wir wühlen in unserem Seelenleben, um unserem Neid, unserer Disziplinlosigkeit und unserer Ungeduld auf den Grund zu gehen. In Mußestunden, die wir eigentlich genießen sollten, rätseln wir herum, was die geheimnisvolle Ursache unserer Traurigkeit und Lustlosigkeit sein könnte. Von dieser Tätigkeit lassen wir uns auch nicht durch die offensichtliche Tatsache abhalten, dass es anderen ganz genauso geht. (Nicht umsonst sind Bücher über Glück und Lebenskunst Megabestseller.)
    Besonders an Silvester wird Rechenschaft abgelegt und Bilanz gezogen, deswegen ist es für viele Menschen der schlimmste Tag des Jahres.
    Je länger wir dieses »falsche« Leben führen, desto mehr unperfekte Vergangenheit entsteht, die wir in der Zukunft wieder wettmachen müssen. Die versäumten Gelegenheiten türmen sich neben unseren Um- und Holzwegen, und es wird immer schwieriger, einen Schlachtplan zu entwerfen, mit dem sich die eigene Vita noch logisch zu Ende erzählen ließe.
    Erleichterung und Atempausen von diesem »Vita-Terror« verschaffen uns nur die Situationen, in denen unser Handlungsspielraum auf null zusammenschnurrt, wie es zum Beispiel bei Katastrophen der Fall ist. Wenn eine Innenstadt unter Wasser steht und jeder weiß, was zu tun ist. Wenn Leben und Gegenstände gerettet werden müssen, dann darf man sich für eine kurze Weile als sinnvolles Mitglied der Gemeinschaft empfinden, ohne das Gefühl zu haben, schon wieder seine Zeit zu verschwenden.
    An der Kluft zwischen dem »falschen« und dem »wirklichen« Leben leiden wir. Aber das »wirkliche« Leben ist ein merkwürdiges Trugbild: Sobald man sich ihm nähert, weicht es vor einem zurück. Nicht selten vergehen Jahre, bis man es schafft, einen festen Vorsatz in die Tat umzusetzen; und hat man sich dann endlich im Fitnessstudio oder beim Salsa-Kurs angemeldet, beginnt zu joggen oder schreibt an der Drehbuchidee, die man seit einer Ewigkeit mit sich herumträgt, oder sitzt allein auf einer Insel, so wie man es sich schon lange vorgenommen hat, überfällt einen prompt die Frage: Was hat das mit mir zu tun? Wie bin ich nur auf die Idee gekommen, dass mir das Spaß machen könnte?
    Irgendwann dämmert es uns: Unser »falsches« Leben ist echt. Es ist wirr und ungeplant, es gefällt uns nicht, und außerdem haben wir uns das alles ganz anders vorgestellt, aber wir erleben es gerade und es ist auch nicht zu stoppen. Aber wider besseres Wissen halten wir an der Vorstellung vom »wirklichen oder echten« Leben fest. Es ist unsere einzige Hoffnung.
»Singen, Malen, Bücher schreiben –
es ist nie zu spät, noch einmal richtig loszulegen.«
Titelthema der Frauenzeitschrift »Laviva« im Oktober 2011
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    Es gilt, eine Kluft zu überbrücken zwischen der Person, die wir jetzt gerade sind, und der, die wir in Zukunft sein könnten. Daher werden wir zum Erklärungskünstler und Geschichtenerzähler. Wir erklären unseren Status quo, wie es dazu gekommen ist und was wir bald alles anders machen werden. Der Schmerz, nicht derjenige zu sein, der wir sein könnten, ist ungeheuer inspirierend, und so erzählen wir jedem, der es hören will, das Märchen von unserem besseren Selbst. Wir fühlen uns wie das schlafende Dornröschen, welches vom richtigen Prinzen mit einem Kuss zum »wirklichen« Leben erweckt werden will – ärgerlich ist, dass wir nicht in einem gläsernen Sarg konserviert werden, bis es so weit ist.
Bis das wirkliche Leben beginnt,
können Sie 100 Jahre warten.
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UNSER LEBEN:
EINE UNPERFEKTE GESCHICHTE
    Immer, wenn wir etwas erzählen, was uns gerade eben oder schon vor Jahren passiert ist, erzählen wir dies in
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