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Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Titel: Ich bleib so scheiße, wie ich bin
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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dass der Weg Schritt für Schritt in die richtige Richtung führte. Aber bis zu dem Zeitpunkt sah es so aus, als sei ich nur wahllos auf einem Acker neben meinem eigentlichen Lebensweg herumgetrampelt, und diese Tatsache machte mich traurig und verzweifelt.
    Wie hatte das passieren können, einem Menschen wie mir, mit so vielen Talenten und Möglichkeiten, wie mir zeit meines Lebens von Lehrern, Eltern und Freunden versichert wurde. So viele Chancen warteten auf mich, warum ergriff ich sie nicht?
Ich muss meine Talente nutzen – aber wie?
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    Zehn Jahre Aufschub verschafften mir die Erkenntnis, dass wir eine durchschnittlich zehn Jahre höhere Lebenserwartung haben als vorangegangene Generationen, ich also getrost bei allen Angaben ein ganzes Jahrzehnt dazuzählen durfte. Hatte ich die Biografie einer Frau entdeckt, die im Jahr 1960 im reifen Alter von 32 Jahren ihren Traummann gefunden hatte, mit ihm gemeinsam nach Rio ausgewandert war und dort eine Tanzschule und eine Familie gegründet hatte, dann konnte man guten Gewissens behaupten, dass sie nach heutiger Rechnung ungefähr 42 Jahre alt gewesen war – also in meinem Alter.
    Bald musste ich mir eingestehen, dass für Menschen wie mich nur noch eine überraschende Karriere möglich war. Nur ein ungewöhnliches Ereignis würde aus meinem Leben noch eine Erfolgsgeschichte machen.
    Viele Menschen warten insgeheim darauf, dass etwas passiert, was ihrem Dasein eine entscheidende Wendung gibt. Ein Einfall oder eine Begegnung, der oder die sie plötzlich ihr Leben unter ganz neuen Gesichtspunkten sehen lässt, sodass, was ihnen bisher willkürlich und unzusammenhängend erschien, mit einem Mal Struktur erhält. Dieses Ereignis wäre wie ein schon verloren geglaubtes Puzzlestück, das, kaum an seinen Platz gesetzt, die Vergangenheit ordnet, sodass sich die Zukunft wie ein roter Teppich vor einem ausrollt: Man braucht nur noch dieser Spur zu folgen.
In Zukunft wird alles besser,
aber wann fängt sie an?
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    Bis es so weit ist, kommt es uns so vor, als befänden wir uns im »falschen« Leben. Einzige Hoffnung dabei: Das wirkliche Leben möge bald beginnen.
    Wer das falsche Leben lebt, hat ein latent schlechtes Gewissen, ganz gleich, was er tut – ob er gerade arbeitet, Urlaub macht, fernsieht, im Internet surft, raucht, isst, liebt oder schläft. Das richtige Leben würde sich anders anfühlen, im wirklichen Leben würde sich eins zum anderen fügen, und alles würde einem leicht von der Hand gehen. Wir wären erfolgreich, aktiv und gesund, beliebt und mit dem richtigen Partner zusammen. Und viel glücklicher und zufriedener als in diesem falschen Leben.
    Ein wirkliches Leben ist eines, das gelingt, wo wir also die Zeit, die uns gegeben ist, dazu nutzen, aus unseren Talenten und Möglichkeiten das Beste zu machen. Wir haben die Freiheit, unser Leben so zu gestalten, wie wir es möchten; ein seltenes Privileg, um das uns viele Menschen beneiden.
    Dieses falsche Leben ist noch viel falscher als das »falsche Leben«, von dem der Philosoph Theodor W. Adorno spricht und damit die Situation des Menschen in der modernen Warenwelt meint. In diesem modernen Leben sei es, so Adorno, unmöglich, privat so zu leben, wie es den eigenen Überzeugungen entspräche. Man werde, ob man wolle oder nicht, Teil des Systems und könne zum Beispiel wenig Einfluss darauf nehmen, wie seiner eigenen Meinung nach mit den natürlichen Ressourcen umzugehen sei. Bei Adorno gibt es also noch ein Richtig und Falsch. Das Richtige ist man theoretisch selbst und das Falsche, das sind die Bedingungen. Glücklich, wer so empfindet, denn der hat eine Ausrede zur Hand, was die eigene, fahrige Lebensplanung betrifft.
Wir haben die Freiheit,
unser Leben zu gestalten, also haben wir
auch die Pflicht, es zu tun.
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    Alle anderen haben Schuldgefühle, weil sie aus verschiedenen Gründen nicht alles aus ihren Möglichkeiten herausholen. Ständig befindet man sich im Rechtfertigungsmodus: Eigentlich könnten wir mehr aus uns machen, wenn wir uns ein klein wenig mehr anstrengen würden, eigentlich hatten wir uns vorgenommen, regelmäßig zum Yoga zu gehen, um ausgeglichener zu werden, und eigentlich wollten wir uns nach einem neuen Job umsehen, denn der alte macht uns schon lange keinen Spaß mehr. Eigentlich sind wir nicht dick, denn wir werden demnächst abnehmen und regelmäßig ins Fitnessstudio gehen usw. Wer ein richtiges Leben führen möchte, hat viel zu tun. Aber weil wir gar nicht genau wissen, was
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