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Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Titel: Ich bleib so scheiße, wie ich bin
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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Form einer Geschichte. Diese Geschichten über unser Leben räumen Unwichtiges beiseite, sie geben dem Chaos aus unseren Irrtümern, versäumten Gelegenheiten, ungenutzten Chancen, kaputten Beziehungen usw. einen sinnvollen Zusammenhang und uns eine Bestimmung. Ohne sinnvolle Zusammenhänge kann man nicht erzählen.
    Zufälle glücklicher und unglücklicher Art, Begegnungen und erzwungene Gemeinschaften prägen das Leben mehr, als einem lieb ist. Wer kann sagen, ob es richtig war, sich für das eine Studium und gegen das andere zu entscheiden? Und wer weiß, wie sich die Dinge für einen entwickelt hätten, wenn man mehr dafür gelernt und nicht so viel Party gemacht hätte? Was wäre aus einem geworden, wenn die Eltern einen als Jugendlichen ins Ausland geschickt oder einem den Schauspielunterricht bezahlt hätten, oder wenn man mit Anfang zwanzig nicht so schüchtern und unsicher gewesen wäre. Vieles lässt sich naturgemäß erst in der Rückschau beurteilen, manches noch nicht einmal dann.
    Wie sich aus einem zufälligen Ereignis eine Lebensgeschichte konstruieren lässt, illustriert folgendes Fallbeispiel:
    Ein freiberuflich tätiger Mann, Mitte vierzig, kämpft zeit seines Lebens ohne besonderen Erfolg gegen seine Unpünktlichkeit. Schon als Kind kam er ständig zu spät zur Schule, obwohl seine Eltern darauf achteten, dass er jeden Morgen rechtzeitig das Haus verließ. Auch zu privaten Verabredungen war er selten pünktlich, was ihn manche Freundschaft kostete. Als junger Mann verpasste er – im wahrsten Sinne des Wortes – die Frau seiner Träume. Abgehetzt und durchgeschwitzt erschien er zu spät bei Bewerbungsgesprächen. Er verlor Jobs, verärgerte Fremde und Bekannte, versäumte Züge und Gelegenheiten.
    Eines Tages muss er für einen Auftrag nach Mallorca fliegen. Er steht sehr früh auf, verlässt das Haus später, als er geplant hat, die U-Bahn fällt aus, das Taxi bleibt im Stau stecken, kurzum, als unser Mann am Flughafen erscheint, ist sein Flugzeug schon weg. Unglücklich kehrt er nach Hause zurück, wo er am Abend die Nachrichten schaut und erfährt, dass die Maschine, die er am Morgen verpasst hat, abgestürzt ist.
    Dieses zufällige Ereignis kommt unserem Mann natürlich ganz und gar nicht zufällig vor. Das Unglück versöhnt ihn von einer Sekunde auf die andere mit seinem Schicksal: Seine so erfolglos bekämpfte Unpünktlichkeit, die ihm bis zu diesem Zeitpunkt wie ein Fluch vorgekommen war, wird auf einmal zum Segen, denn sie rettete ihm im entscheidenden Moment das Leben.
    Die nachträgliche Deutung des Ereignisses ist jedoch nicht das Ereignis selbst. Es ist eine gute, logische und interessante Geschichte, aber eine Geschichte. Denn der Flugzeugabsturz hat nichts mit der lebenslangen Unpünktlichkeit unseres Mannes zu tun.
    Die Geschichten, die wir über uns erzählen, haben ein Janusgesicht: Weil sie unsere Schwächen und Stärken rechtfertigen, nehmen sie uns genau aus diesem Grund in Geiselhaft.
    Was ist damit gemeint? Das bedeutet, dass ich die Geschichte, die ich mir selbst und anderen als meine Biografie präsentiere, auch bis zum bitteren Ende leben muss. Ich kann nicht einfach heute aus dem aussteigen, was ich gestern noch meinen Freunden als die »Wahrheit« über mich selbst verkauft habe.
Man kann die Wahrheit nicht erzählen.
Die Wahrheit ist keine Geschichte.
Alle Geschichten sind erfunden,
Spiele der Einbildung.
Max Frisch
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    Die meisten Menschen wissen, wie es sich anfühlt, wenn die eigene »Wahrheit« einem jeden weiteren Schritt unmöglich macht. Eine sehr weit verbreitete Einschätzung der eigenen Persönlichkeit lautet: Mir fällt es schwer, Dinge, die ich einmal angefangen habe, zu Ende zu bringen. Viele meinen, dies als besonders spezifisch für den eigenen Charakter erkannt zu haben, und sind nun ein Leben lang damit beschäftigt, sich von diesem Fluch zu befreien. Vielleicht wurde es uns auch von Eltern und Lehrern gesagt, und wir haben ihnen geglaubt, doch ganz gleich, ob wir selbst zu dieser Einschätzung gekommen sind oder ob wir sie übernommen haben: dass diese Geschichte unfrei macht, liegt auf der Hand.
    Wer diese Geschichte über sich für wahr hält, kann nicht eine gerade begonnene Ausbildung abbrechen oder einen Job kündigen, der ihm nicht liegt, einen Tanzworkshop, der keinen Spaß mehr macht, sausen lassen oder ein Englischlehrbuch früher als geplant beiseitelegen, ohne von Gewissensqualen gefoltert zu werden.
Fehler, die wir an uns bekämpfen,
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