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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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Glück nicht.
    Eine Krankenschwester entrollte eine Plastikschürze, band sie sich um die Taille und bat mich, Platz zu machen. Da sich Vater an meiner Hand festklammerte, musste ich erst den Griff seiner Finger lösen. Die Krankenschwester lagerte meinen Vater um und setzte ihn mithilfe von Kissen etwas auf. Dabei bedachte sie mich mit einem merkwürdigen Blick. Eine andere Schwester hatte mir erzählt, dass sie einen Zeitschriftenartikel über mich gelesen hatte – einige Beschäftigte der Klinik wussten also, wer ich war. Ich wich ihrem Blick aus. Da fiel mir das Schild am Fußende des Bettes auf: Hirsi Magan Abdirahman stand darauf. Dabei hieß mein Vater doch Hirsi Magan Isse.
    Ein junger Arzt teilte mir mit, dass mein Vater Leukämie habe. Er hätte wohl noch ein Jahr leben können, wenn er nicht eine Infektion bekommen hätte, die sich zu einer Sepsis entwickelt hatte. Ein paar Tage zuvor war er ins Koma gefallen. Daraus war er zwar wieder erwacht, doch nun hielten ihn nur noch die Maschinen am Leben. Wiederholt fragte ich, ob mein Vater Schmerzen habe, doch der Arzt verneinte das: Er sei schwer krank, habe aber keine Schmerzen.
    Ich fragte den Arzt, ob ich ein Foto von meinem Vater machen dürfe. Nein, sagte er, dafür brauche man die Zustimmung des Patienten, und der Patient sei außerstande, eine solche Entscheidung zu treffen.

    Als ich meinen Vater 1992 in Nairobi verließ, war er ein starker, vitaler Mann. Er konnte böse sein, sogar Furcht einflößend – ein Löwe, ein echter Anführer. Solange ich Kind war, war er mein Gebieter, mein Held, jemand, dessen Abwesenheit geheimnisumwittert war, nach dessen Anwesenheit ich mich sehnte, dessen Anerkennung mir alles bedeutete und dessen Zorn ich fürchtete.
    Mittlerweile lagen so viele Auseinandersetzungen zwischen uns. Ich hatte ihn zutiefst verletzt, als ich 1992 vor dem Somalier floh, den er mir zum Ehemann erwählt hatte. Er verzieh mir, und wir sprachen uns aus, förmlich, am Telefon. Ein Jahrzehnt später kränkte ich ihn erneut, als ich mich vom Islam lossagte und öffentlich Kritik daran übte, wie im Islam Frauen behandelt wurden. Unser letzter und schlimmster Streit folgte 2004, als ich mit Theo van Gogh den Film Submission über die Misshandlung und Unterdrückung muslimischer Frauen drehte. Danach ging mein Vater einfach nicht mehr ans Telefon, er verweigerte jedes Gespräch. Nach Theo van Goghs Ermordung – ich war untergetaucht, und man hatte mir das Handy abgenommen – versuchte ich nicht mehr weiter, ihn zu erreichen. Wenn man mich auf ihn ansprach, erklärte ich, wir hätten uns entfremdet.
    Von seiner Krankheit erfuhr ich im Juni 2008, wenige Wochen vor seinem Tod. Mein Ex-Freund Marco aus Holland hatte mir ausgerichtet, dass meine Cousine Magool dringend nach mir suche. Sie ist die Tochter der jüngsten Schwester meiner Mutter, also nicht mit der Familie meines Vaters verwandt, aber sehr erfinderisch. Als meine Halbschwester Sahra erfuhr, wie krank mein Vater war, bat sie Magool, nach mir zu suchen. Da Marco der einzige Mensch war, von dem Magool wusste, dass er mir nahegestanden hatte, als wir fünf Jahre zuvor das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, kontaktierte sie ihn.
    Daraufhin rief ich meinen Vater in seiner Wohnung im Ostlondoner Stadtbezirk Tower Hamlets an, wo er inzwischen lebte. Bei ihm war es schon spät am Abend, bei mir an der amerikanischen Ostküste sonniger Nachmittag. Ich zitterte am ganzen Leib. Als er den Hörer abnahm, klang er wie immer, stark und freundlich. Beim Klang seiner Stimme schossen mir die Tränen in die Augen. Ich sagte ihm, was ich unbedingt hatte loswerden wollen, nämlich, dass ich ihn liebte, und konnte sein Lächeln förmlich durch das Telefon hören.
    »Natürlich liebst du mich!«, rief er. »Und natürlich liebe ich dich! Hast du noch nie gesehen, wie Eltern ihre Kinder knuddeln? Hast du in der Natur nie beobachtet, wie Tiere ihre Jungen liebkosen und abschlecken? Natürlich liebe ich dich. Du bist mein Kind.«
    Ich sagte, ich würde gern kommen und ihn besuchen, doch es sei kompliziert, die nötigen Sicherheitsvorkehrungen für einen Besuch in Tower Hamlets zu treffen, einem überwiegend von Einwanderern und fast ausschließlich von Muslimen bewohnten Stadtbezirk. Wenn ich ohne Schutz dorthin ging, war das in etwa so, als wage sich eine kleine Fliege in einen Raum voller großer Spinnennetze. Mit Glück würde sie unbemerkt ihren Weg finden, aber wenn sie sich doch im Netz verfing, war
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