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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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britischen Regierung, als gebürtige Somalierin solle ich die somalische Botschaft um Hilfe bitten. Diese könne das Außenministerium kontaktieren und um Hilfe bei den Sicherheitsmaßnahmen ersuchen! Unter anderen Umständen hätte ich die absurde bürokratische Logik vielleicht amüsant gefunden, nicht aber in diesem Moment, in dem ich dringend nach Großbritannien musste, um meinen sterbenden Vater noch einmal zu sehen.
    Als das Flugzeug abhob, hatte ich immer noch keine Ahnung, ob ich nach der Landung Schutz erhalten würde. Mir war es mittlerweile auch einerlei, denn nach Tagen des Wartens hatte ich nur noch Angst, zu spät zu kommen. Sollte mein Vater sterben, würde ich seine Leiche nicht sehen dürfen, das war mir klar. Männliche Verwandte würden ihn rasch fortbringen, waschen, zurechtmachen und innerhalb von vierundzwanzig Stunden beerdigen. Bei einer muslimischen Bestattungszeremonie sind Frauen am Grab nicht zugelassen. Ihre Anwesenheit gilt als störend, weil sie hysterisch werden, sich womöglich sogar zu dem Verstorbenen ins Grab werfen. Für eine Frau ist es ungehörig, zu einer Beerdigung zu gehen.
    Vaters Frauenbild war durchaus widersprüchlich. Er hatte moderne Ideen zur Alphabetisierung aufgegriffen, seine erste Frau gedrängt, die Universität zu besuchen, und darauf bestanden, dass meine Schwester Haweya und ich zur Schule gingen, obwohl meine Mutter dagegen war. Er betonte, wie stark, wertvoll und wichtig Frauen seien. Doch mit zunehmendem Alter wurde seine Haltung zu islamischen Überzeugungen orthodoxer, etwa in Fragen der Verhüllung, der Ehe und der Unterwerfung unter den Ehemann. Ungeachtet seiner häufig exzentrischen Ansichten: Eine Frau auf einer Beerdigung hätte mein Vater nicht toleriert.

    Bei meiner Ankunft am Londoner Flughafen Heathrow wartete bereits eine große Limousine der niederländischen Botschaft auf mich. In einem zweiten, kleineren, bestens gesicherten Auto saßen Leute von Scotland Yard. Wir fuhren direkt zum Krankenhaus.
    Hier war ich nun, und zu meiner Erleichterung lag mein Vater vor mir und war noch am Leben. Armer Abeh, ans Bett gefesselt, alt, schutzbedürftig, krank. Er lächelte mich an und döste weg, wachte wieder auf, rang nach Luft und versuchte immer wieder zu sprechen, doch es wollte nichts herauskommen außer einem »Asch, hah«. Dann spitzte er die Lippen, wie zum Küssen, und hielt meine Hand, so fest er konnte.
    Ich spürte all die Worte, die ich nie zu meinem Vater gesagt hatte, wie eine schwere Last, die vielen vergeudeten Jahre, die wir uns nicht gesehen hatten. Die einzigen Worte, die ich finden konnte, waren schlichte Liebesbezeugungen. Ich sagte sie wieder und wieder. Für alles andere war es zu spät.
    Ich war nicht ins Krankenhaus gekommen, um Absolution von ihm zu erhalten. Ich glaubte nicht mehr daran, dass mir, wenn ich das »Richtige« täte – wenn ich beispielsweise meiner Pflicht nachkam und meine Eltern um Vergebung und ihren Segen bat – , meine Sünden vergeben würden. Vielleicht machte ich ihn mit meiner Erscheinung sogar unglücklich: Ich hatte Hosen an und kein Kopftuch. Ich war nur hier, weil ich das Licht in seinen Augen sehen und eine Bestätigung dafür haben wollte, dass wir uns gegenseitig liebten, uns anerkannten, dass wir uns immer wertgeschätzt hatten.
    Mit dem Versuch, mir etwas mitzuteilen, verbrauchte er seine letzten Kraftreserven. Ich werde nie erfahren, was er sagen wollte. Für meinen Vater war Gott der Schöpfer und Versorger, doch Gott war auch grimmig und zornig. Tief in meinem Innern begriff ich, dass mein Vater auf seinem Sterbebett Angst davor hatte, ich würde durch die Ablehnung seines Glaubens Allahs Zorn heraufbeschwören. Vater hatte uns immer gelehrt, dass diejenigen, denen Gott nicht vergibt, ein elendes Leben auf Erden und das ewige Fegefeuer im Jenseits erwarten. Doch obwohl unsere Vorstellungen nicht vereinbar waren – und es nie sein werden, denn zwischen ihnen liegen Welten –, hat mir mein Vater, glaube ich, vergeben. Am Ende ließ er es zu, dass seine väterliche Liebe den Sieg über die Forderungen seines unversöhnlichen Gottes davontrug.
    Es war fast elf, und die Besuchszeit sollte bald beginnen. Die Somalis würden, wie von Sahra vorausgesagt, ins Krankenhaus strömen, um meinen Vater zu sehen. Die Vorstellung, mit ihnen zusammenzutreffen, war unerträglich. So schwer es mir fiel – ich nahm Abschied von Abeh.
    Die Scotland-Yard-Leute begleiteten mich aus dem Krankenhaus, und
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