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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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Aufenthalt in Brasilien, stand der Besuch eines Kolloquiums über die Aufklärung in Australien auf meinem Terminplan. Meinen Vater in London, sagte ich mir, konnte ich noch im Spätsommer besuchen. Doch als ich Mitte August aus Australien zurückkehrte, erhielt ich während der Zwischenlandung in Los Angeles einen Anruf von Marco. Mein Vater lag im Koma.
    Wieder rief ich meine Cousine Magool an, die mir die Mobilfunknummer meiner Halbschwester Sahra gab. Die jüngste Tochter meines Vaters hatte ich im Jahr 1992 das letzte Mal gesehen, da war sie acht oder neun gewesen, ein drahtiges, temperamentvolles Kind. Ich hatte sie besucht, als ich auf der Reise von meiner Heimat Kenia nach Deutschland einen Zwischenstopp in Äthiopien einlegte. Von Deutschland aus sollte ich, so die Anweisung meines Vaters, nach Kanada fliegen, zu einem Mann, den ich kaum kannte, einem entfernten Cousin, der mein Ehemann werden sollte. Sahra lebte damals zusammen mit ihrer Mutter in Addis Abeba. Ihre Mutter war zu der Zeit, wie meine Mutter, mit meinem Vater verheiratet, aber er war nie da. Ich spielte einen Nachmittag lang mit meiner kleinen Halbschwester und versuchte, mir das Amharische aus meiner Kindheit ins Gedächtnis zu rufen – die einzige Sprache, die Sahra damals beherrschte. Als ich in ihrem Alter gewesen war und mein Vater noch bei uns gelebt hatte, hatte ich auch Amharisch gesprochen.
    Nun, im Sommer 2008, war Sahra vierundzwanzig Jahre alt. Sie war verheiratet, hatte eine vier Monate alte Tochter und lebte mit ihrer Mutter, der dritten Frau meines Vaters, in Tower Hamlets.
    Ich verschwieg Sahra, dass ich meinen Vater im Krankenhaus besuchen wollte. Es mag schrecklich klingen, aber ich wusste wirklich nicht, ob ich ihr so weit vertrauen konnte. Wahrscheinlich wollten mich meine nächsten Verwandten nicht gerade umbringen, aber Tatsache ist nun einmal, dass ich sie beschämt und verletzt hatte. Sie mussten mit der Empörung leben, die meine öffentlichen Äußerungen auslösten, und einige Mitglieder meines Clans hätten mich dafür sicher auch ermordet.
    Sahra gab mir immerhin den Rat, ich solle, falls ich Abeh besuchen wolle, außerhalb der Besuchszeiten hingehen, da Massen von Somalis ins Royal London Hospital strömten, um den Segen meines Vaters zu erbitten und ihre eigenen Aussichten auf einen Einzug in den Himmel zu verbessern. Vielen galt er als Symbol für den Kampf gegen Präsident Siad Barres Militärregime. Er hatte den Großteil seines Erwachsenenlebens der Aufgabe gewidmet, das Regime zu stürzen. So war es Sitte in Somalia, und so hielten sie es auch hier im Krankenhaus: Frauen, Kinder und Enkelkinder, die Ältesten des Clans, der Unterclans und der verbrüderten Unterclans, Unmengen von Verwandten kamen ans Sterbebett, dem Todgeweihten Respekt zu bekunden. Vielen von ihnen wäre ich am Krankenbett meines Vaters alles andere als willkommen gewesen, weil ich dem Islam abgeschworen hatte. Ich war eine Abtrünnige, eine, die sich offen als Atheistin bekannt hatte, eine schamlose Ausreißerin und, am schlimmsten, eine Verräterin am Clan und am Glauben. Der eine oder andere fand sicher, dass ich den Tod verdiente, und in den Augen vieler anderer hätte ich durch meine Anwesenheit das Sterbebett meines Vaters besudelt und vielleicht sogar seinen Einzug ins Jenseits vereitelt.
    Solcherlei Gefühle spürte ich allerdings nicht, als ich mit Sahra telefonierte. Sie war nett und sanft, ein wenig verschwörerisch, als hätte ich sie schon allein durch unser Telefonat in ein gefährliches Abenteuer verwickelt.

    Ich musste sofort nach England. Weil es eine dringende, kurzfristig beschlossene rein private Reise war, erwies sich die Planung der Sicherheitsmaßnahmen als sehr kompliziert. Wenn ich an einer Konferenz teilnehme, wird das Nötige schon Wochen im Voraus auf offiziellem Weg mit der Polizei geregelt. Mir war klar, dass es nicht klug wäre, in Gesellschaft der Herren, die mich in Amerika beschützen, einfach loszufliegen. Sie kannten sich weder in Großbritannien aus noch durften sie dort Waffen tragen. Wenn ich bei der Reisevorbereitung nachlässig war, würde ich nicht nur mich selbst, sondern auch andere einer Gefahr aussetzen.
    Ich rief Freunde in Europa an, die, wie ich hoffte, ihren Einfluss geltend machen konnten, und bat sie, mir bei der Organisation des erforderlichen Schutzes behilflich zu sein. Stundenlang mühten sie sich ab, doch, wie es schien, ohne Erfolg. Einer Freundin erklärte ein Vertreter der
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