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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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klar, was mit ihr geschehen würde. Wenn ich andererseits mit Polizeischutz dort auftauchte, würde das gewiss nicht gut ankommen – als könnte ich meiner eigenen Familie nicht über den Weg trauen.
    »Schutz!«, rief mein Vater. »Wofür brauchst du Schutz? Allah wird dich vor jedem beschützen, der dir Böses will! Kein Mitglied unserer Glaubensgemeinschaft wird dir etwas anhaben. Und unsere Familie steht doch nicht in dem Ruf, feige zu sein! Erst neulich hat einer der bedeutendsten Männer unseres Clans gesagt, er wolle gern einmal mit dir diskutieren. Wenn du willst, kann ich den Clan bitten, eine Delegation zusammenzustellen, die dich nach Dschidda bringt, dann kannst du in Saudi-Arabien eine Diskussion mit ihm führen! Du könntest eine Pressekonferenz einberufen und mitteilen, dass du keine Ungläubige mehr bist. Sag ihnen, du hättest zum Islam zurückgefunden und seist jetzt eine Geschäftsfrau!«
    Innerlich musste ich lachen. Ich hörte meinem Vater noch eine Weile zu und erkundigte mich dann nach seiner Gesundheit.
    »Vergiss nicht, Ayaan«, antwortete er, »unsere Gesundheit und unser Leben liegen in Allahs Händen. Ich bin auf dem Weg ins Jenseits. Mein liebes Kind, ich möchte, dass du nur dieses eine Kapitel aus dem Koran liest, Al-Qiyama.«
    Und er zitierte – auf Arabisch, versteht sich, obwohl wir uns auf Somali unterhielten – aus der Sure »Die Auferstehung«: »Nein! Ich schwöre beim Tage der Auferstehung. Und nein! Ich schwöre bei der sich selbst anklagenden Seele: Glaubt der Mensch, dass Wir seine Gebeine nicht wieder zusammenfügen können? Ja, fürwahr, Wir sind imstande, seine Fingerspitzen wieder herzustellen. Doch der Mensch will einfach weiter vor sich hin sündigen. Er fragt: ›Wann ist der Tag der Auferstehung?‹«
    Ich erklärte meinem Vater, ich wolle ihn nicht belügen: Ich glaubte nicht mehr an das Vorbild des Propheten. Er unterbrach mich, und sein Ton wurde leidenschaftlich, ungeduldig, tadelnd. Er rezitierte weitere Verse aus dem Koran, übersetzte sie in Somali und zählte viele Beispiele von Menschen auf, die wie ich dem Islam den Rücken gekehrt, dann aber zum Glauben zurückgefunden hatten. Massen von Nichtmuslimen rund um den Erdball seien zum Islam konvertiert. Er sprach über den einzigen wahren Gott und warnte mich, das Jenseits aufs Spiel zu setzen.
    Während ich seinen Worten lauschte, sagte ich mir, dass seine schulmeisterlichen Worte in Wahrheit die eines Vaters waren, der seine Liebe auf die einzige ihm bekannte Art ausdrückte. Gern hätte ich daraus geschlossen, dass er wirklich begann, mir meine Entwicklung zu verzeihen. Doch dem war wohl eher nicht so – wahrscheinlich tat er nur seine Pflicht. Durch meine westliche Lebensweise hatte ich meine Ehre verspielt. Ich trug westliche Kleider (was in seinen Augen nicht besser war, als wenn ich gar nichts angehabt hätte), vor allem aber hatte ich dem Islam abgeschworen und ein Buch geschrieben, das im englischsprachigen Raum unter dem unverschämten und triumphierenden Titel Infidel erschienen war, »Ungläubige«; darin hatte ich meine Abkehr vom Glauben öffentlich gemacht. Doch mein Vater wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, und wollte sichergehen, dass seine Kinder, ungeachtet ihrer Verfehlungen, den Weg zum Himmel beschritten.
    Ich ließ ihn reden, machte aber keine falschen Versprechungen zu konvertieren. Hätte ich es getan, so hätte ihm das vielleicht ermöglicht, in Frieden zu sterben. Doch ich konnte es nicht, ich konnte ihn in dieser Sache nicht anlügen. Immerhin erklärte ich ihm freundlich, dass ich zwar nicht mehr mit dem Islam übereinstimmte, aber den Koran las. Ich verschwieg, dass meine Kritik mit jedem Mal, da ich das heilige Buch aufschlug, noch größer wurde.
    Er stimmte eine Reihe von Bittgebeten an. »Möge Allah dich beschützen, möge Er dich zurückführen auf den rechten Pfad, möge Er dich im Jenseits in den Himmel bringen, möge Allah dich segnen und deine Gesundheit bewahren.« Jedes Gebet schloss er mit der erforderlichen Formel »Amin«, »So soll es geschehen«.
    Nach einer Weile sagte ich, ich müsse zum Flughafen. Er fragte nicht, wohin ich wollte und was ich vorhatte. Ich spürte, dass irdische Angelegenheiten ihm gleichgültig waren. Als ich das Gespräch beendete, war vieles zwischen uns ungesagt geblieben. Fast hätte ich das Flugzeug verpasst, das mich zu einer Konferenz über Multikulturalismus nach Brasilien bringen sollte.

    Ende Juni, nach meinem
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