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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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unfehlbarer Propheten bricht, er muss Frauen vor den tyrannischen Geboten des Korans schützen und für andere Quellen der Spiritualität werben.
    Ich bin eine Nomadin ist wie schon Mein Leben, meine Freiheit ein weitgehend subjektives Buch. Ich erhebe keinen exklusiven Anspruch auf die Patentlösung, wie man zum erfolgreichen Staatsbürger wird. Die menschliche Natur lässt schlichte Kategorien wie »integrierbar« und »nicht integrierbar« nicht zu. Es gibt keine fertige Gebrauchsanweisung, kein Rezept für die einfache, hürdenfreie Aussöhnung mit der Moderne. Jede und jeder Einzelne ist anders und muss mit seinen Chancen und Beschränkungen zurechtkommen. Dasselbe gilt für Familien und Gemeinschaften, die gleichzeitig einen neuen Lebensstil übernehmen und den Traditionen ihrer Vorväter und ihres Glaubens treu bleiben wollen.
    Alles in allem ist es ein sehr persönliches Buch, eine Auseinandersetzung mit meinen Wurzeln. Man könnte sagen, dass es sich an Sahra richtet, die kleine Schwester, die ich in der Welt, aus der ich floh, zurückließ. Doch es ist auch das Gespräch, das ich gern mit meiner Familie geführt hätte, insbesondere mit meinem Vater, der früher einmal Verständnis hatte für das moderne Leben, das ich heute führe, und es sogar propagierte, dann jedoch in eine Trance der Unterwerfung unter Allah zurückfiel. Es ist das Gespräch, das ich gern mit meiner Großmutter geführt hätte, die mich lehrte, unsere Blutlinie zu ehren, komme, was wolle.
    Beim Schreiben dieses Buches dachte ich beständig an Jacob, den Sohn meines Bruders, der in Nairobi aufwächst, und an Sahras kleine Tochter Sagal, die in einer Art Miniaturausgabe von Somalia in England geboren wurde. Ich hoffe, dass sie zu aufrechten, starken und gesunden Menschen heranwachsen, vor allem aber, dass sie frei sein werden.

Teil eins
EINE PROBLEMFAMILIE

Kapitel eins
MEIN VATER
    Als ich die Intensivstation des Royal London Hospital betrat, fürchtete ich schon, ich könnte zu spät kommen. Mein Vater lag ausgestreckt auf dem Bett, sein Mund stand schaurig offen. Er war an mehrere einschüchternde Geräte angeschlossen, die unablässig piepsten und tickten. Die ansteigenden und abfallenden Kurven auf den Monitoren schienen sein unmittelbar bevorstehendes Ende anzukündigen.
    »Abeh« , rief ich, »Abeh , ich bin es, Ayaan.«
    Ich drückte ihm die Hand und küsste ihn auf die Stirn. Da öffnete er unvermittelt die Augen und lächelte. Sein warmer Blick ließ den gesamten Raum erstrahlen. Ich legte beide Hände in seine offene rechte, und er drückte sie. Er wollte sprechen, wenigstens ein oder zwei Wörter, brachte aber nur ein Gurgeln und Keuchen heraus. Ebenso wenig gelang es ihm, sich aufzurichten.
    Vater war ganz mit weißen Laken zugedeckt, es sah aus, als hätte man ihn ans Bett gebunden. Mit dem kahlen Schädel wirkte er viel kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Ein Schlauch, der in seinem Mund verschwand, versorgte ihn mit Sauerstoff. Ein zweiter verband die Nieren mit dem Dialysegerät, und ein weiterer Schlauchwirrwarr führte zum Handgelenk. Ich setzte mich neben ihn, streichelte ihm das Gesicht und sagte: »Abeh, Abeh, es ist gut. Abeh, mein armer Abeh, du bist so krank.«
    Er konnte nicht antworten. Jedes Mal, wenn er zu sprechen versuchte, fiel er ins Kissen zurück, die Brust hob und senkte sich krampfhaft, und das Sauerstoffgerät pumpte fauchend und keuchend Luft in ihn hinein. Nach einem kurzen Moment des Ausruhens unternahm er einen neuen Versuch. Schließlich gab er mir mit der rechten Hand ein Zeichen, dass er einen Stift haben wolle, aber den konnte er kaum halten. Er war so geschwächt, dass er nicht mehr als ein paar krumme Striche auf das Papier kritzeln konnte. Dabei mühte er sich so ab, dass er vor Anstrengung fast aus dem Bett rutschte.
    Es war eine große Station. Die Krankenschwestern eilten von Patient zu Patient, wechselten die Bettwäsche und verabreichten Medikamente. Mir fiel der Akzent des Arztes auf, zuerst dachte ich, er komme aus Mexiko. Auf meine Frage sagte er, er sei Spanier. Auf der Station arbeiteten fast ausschließlich Einwanderer. Ich konnte zwar Pfleger und Ärzte nicht auseinanderhalten, versuchte aber innerlich die Mitglieder des medizinischen Personals, die Techniker und die Reinigungskräfte ihrer Herkunft zuzuordnen: die indische Halbinsel, Ost- und Westafrika, Nordafrika. Einige Frauen trugen ein Kopftuch zu ihrer Berufskleidung. Somalischen Angestellten begegnete ich zum
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