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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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erinnere mich aber noch an das Funkeln in ihren Augen, während sie die klangvollen Worte deklamierte.)
    Saleh hatte nichts Vergleichbares zu bieten. Sein Ruf war für immer ruiniert.
    Die Moral dieser Geschichte lautet, dass jeder Mensch seinen Platz hat. Man muss wissen, wo man hingehört, und dort bleiben. Wer sich zu weit vorwagt und in die Domäne eines anderen eindringt, ist töricht. Wer damit prahlt, mit den Leistungen dieses anderen mithalten zu können, fordert den eigenen Fall geradezu heraus.
    Trotzdem konnte ich nicht widerstehen. Ich musste Großmama fragen, was geschehen würde, wenn ein Ringer einen Dichter zu einem Kampf in der Arena der Muskeln herausforderte.
    »Dummes Mädchen«, erwiderte Großmutter. »Ein Dichter ist ein Mann der Verse. Er wäre natürlich klug genug, einen so idiotischen Vorschlag abzulehnen.«
    Und so lernte ich, dass Dichter sehr klug sind und dass Worte die Macht haben, manch andere Kraft zu brechen.

Epilog
BRIEF AN MEINE UNGEBORENE TOCHTER
    Liebes Kind,
    beginnen möchte ich mit der Begegnung mit einer mutigen, außergewöhnlichen Frau: Oriana Fallaci. Ich lernte sie im Mai 2006 an einem Freitagnachmittag in Manhattan kennen. Sie hatte viel über die Bedrohung durch den radikalen Islam gesagt und geschrieben und mich über eine gemeinsame Freundin zu sich eingeladen. Damals wusste ich nur, dass sie die Theologie des Totalitarismus vehement verurteilte.
    Ich klingelte, die Tür ging auf, und vor mir stand eine unglaublich zerbrechliche Frau und bat mich herein. Sie war klein, sehr dünn und blass und begrüßte mich mit den Worten: »Darling, ich habe nicht mehr lange zu leben. Es ist wunderbar, dass Sie mich besuchen. Ich habe Krebs.« Während sie die schmale Treppe hinaufging, sprach sie weiter: »Die Muslime konnten mich nicht besiegen. Mussolinis Faschisten konnten mich nicht besiegen.« Sie erzählte von einem Zwischenfall in Südamerika, als sie nach einer Schießerei in einem Leichenberg gelegen hatte und nur durch Zufall im Leichenhaus gerettet worden war. Dann berichtete sie von einem Gerichtsverfahren, das ein italienischer Staatsanwalt gegen sie angestrengt hatte, um sie, die Islamkritikern, zum Schweigen zu bringen. »All diese bösen Kräfte konnten mich nicht besiegen. Aber dieser Krebs, dieser Krebs, dieser Krebs, der frisst mein Hirn auf …« Ihre Worte verklangen.
    Im Wohnzimmer wollte Oriana meinen Besuch unbedingt mit einem Glas Sekt feiern. »Und Sie sind so jung«, sagte sie. Ich erbot mich, die Flasche zu holen und zu öffnen, aber sie wehrte ab: »Nein, das kann ich noch selber machen, ich muss es sogar.« Als ich sah, wie sehr ihre Hände zitterten und wie winzig sie war verglichen mit der großen Flasche, wiederholte ich mein Angebot. »Nein«, sagte sie wieder. »Ich will das noch tun, denn ich kann es noch.« Dann erzählte sie weiter. So zerbrechlich ihr Körper war, so stark und unverwüstlich war ihr Verstand. Ich hörte ihr zu.
    Nachdem sie von ihrer Lebensreise durch Italien, den Nahen Osten und die USA erzählt hatte, kam sie auf die Problematik zu sprechen, bei der sich unsere Wege kreuzten: die Bedrohung durch den Islam. Doch bald wechselte sie erneut das Thema. »Sie müssen ein Kind bekommen«, sagte sie. »Ich bedaure nur eines in meinem Leben, und das ist, dass ich keine Kinder habe. Ich wollte ein Baby, habe versucht, eins zu bekommen, aber da war es schon zu spät, und es wurde nichts mehr daraus. Darling«, sie beschwor mich jetzt geradezu, »es tut weh, allein zu sein. Das Leben ist einsam. Es muss so sein, manchmal. Trotzdem hätte ich gern ein Kind gehabt. Ich hätte gern Leben weitergegeben. Ich möchte, dass Sie haben, was mir versagt blieb. Die Zeit verfliegt, und eines Tages werden Sie bereuen, dass Sie es immer aufgeschoben haben.«
    Sie gab mir jeweils ein Exemplar ihrer Bücher auf Italienisch. Ich wusste, dass sie mir noch mehr für mein Leben mit auf den Weg geben wollte, doch sie war sichtlich erschöpft. Zweimal sagte sie: »Darling, lassen Sie das Leben nicht an sich vorbeiziehen.« Sie wollte mich nicht gehen lassen und bat mich, sie wieder zu besuchen. Das wollte ich auch. Ihr glühender Blick, die ausgeprägten Wangenknochen, ihre Entschlossenheit erinnerten mich an meine imposante Tante Khadija. Doch vier Monate später, am Morgen des 23. September 2006 – ich saß am Schreibtisch meines Büros im American Enterprise Institute in Washington –, hörte ich im Radio, dass Oriana gestorben war. Ich erinnerte
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