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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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magaalo: die Stadt. Sei es, dass ländliche Gebiete entwickelt werden oder dass die Menschen aus dem miyé in die Stadt ziehen – der Kontakt mit dem magaalo ist unausweichlich und unumkehrbar. Es ist eine historische Flutwelle, nicht aufzuhalten, wie meine Großmutter begriff. Sie riss sie und ihre Familie, mich eingeschlossen, mit sich.
    Diejenigen aus dem miyé, die instinktiv oder rational begreifen, dass ihre traditionelle Lebensordnung dem Untergang geweiht ist, vollziehen den Übergang in die Moderne und haben dort Erfolg. Wer Widerstand leistet oder hin und her schwankt – einen Schritt vor, einen zurück –, Teile der Moderne annimmt und andere nicht, wird früher oder später mit der Realität konfrontiert. So zieht sich der Schmerz nur in die Länge. Erst wenn die Menschen die Sprache der modernen Gesellschaft erlernt, Hygiene und moderne Regeln in der Sexualität und dem sozialen Miteinander angenommen haben, können sie im richtigen Leben Erfolg haben.
    In der westlichen Welt scheint es die vorherrschende Überzeugung zu sein, dass es Immigranten nur gut geht, wenn sie unter sich bleiben können. Es erinnert mich an meine Arbeit als Dolmetscherin in Holland. Damals übersetzte ich immer wieder Gespräche zwischen Sozialarbeitern und ihren somalischen Klienten, denen sie eine Unterkunft besorgen sollten. Der Somali bestand beispielsweise darauf, seine Wohnung müsse getrennte Bereiche für Männer und Frauen haben. Nach einer Weile sagte die Sozialarbeiterin, eine solche Unterkunft werde sich nicht finden lassen, da in Holland nicht so gebaut werde. »Wenn Sie das unbedingt wollen, müssen Sie für viel Geld selbst so etwas bauen lassen«, sagte sie dann, und ich übersetzte. »Und auch das wäre schwierig, weil Sie ja auch die städtischen Vorschriften einhalten müssten.« Die Atmosphäre im Raum war angespannt, der Ton wurde gereizt. Der Klient warf der Sozialarbeiterin vor, ihr fehle das Verständnis für seine Wünsche und seine Kultur, und behauptete (was ich ebenfalls übersetzte), sie lasse ihn im Stich, zolle ihm keinen Respekt, helfe ihm nicht.
    Die Vorstellung, dass die Immigranten den Zusammenhalt in der Gruppe »brauchen«, befördert die Selbstwahrnehmung dieser Menschen als Opfergruppe, die eine Sonderbehandlung benötigen. Wenn Menschen tatsächlich ihrer überlieferten Kultur gerecht werden sollten, folgt daraus, dass man ihnen bei deren Bewahrung helfen sollte, indem man ihnen eigene Schulen, staatlich subventionierte Glaubensgemeinschaften und sogar eine eigene Gerichtsbarkeit zur Verfügung stellt.
    In der realen Welt führt gleicher Respekt für alle Kulturen nicht zu einem prächtigen Mosaik bunter und stolzer Völker, die friedlich miteinander auskommen und gleichzeitig eine wunderbare kulinarische und kunsthandwerkliche Vielfalt bewahren. Vielmehr entstehen isolierte Inseln der Unterdrückung, der Ignoranz und des Missbrauchs.
    Hier ist eine der vielen Geschichten meiner Großmutter:
    Es war einmal ein Mann, Saleh, der Ringer. Er kam aus diesem oder jenem Unterclan dieses oder jenes Clans. Woche für Woche forderte er den jeweils besten Ringer eines anderen Unterclans heraus. Der Herausgeforderte, der arme Kerl, musste den Kampf annehmen, weil er andernfalls nie eine Frau aus einem guten Clan finden würde. Doch auch, wenn Saleh ihn besiegte, würde er keine Frau aus einem guten Clan finden. Saleh besiegte so viele Männer, dass gute Familien ihre Erstgeborenen schon weit wegschickten, damit sie nicht gegen ihn antreten mussten.
    Saleh war ein hervorragender Ringer, doch damit gab er sich nicht zufrieden. Er prahlte auch mit seiner dichterischen Begabung. Eines Tages forderte ein Dichter namens Burhaan vom Dhulbahante-Clan Saleh, den Ringer, auf, sich in der Arena der Worte statt auf dem Kampfplatz der Muskeln mit ihm zu messen. Das erregte großes Aufsehen. Was würde Saleh jetzt tun? Nahm er die Herausforderung an, oh, so musste er Burhaan besiegen, wenn er nicht in alle Ewigkeit als Narr dastehen wollte, als einer, der weder wusste, wo er hingehörte, noch, was seine Berufung war. Lehnte er die Herausforderung ab, würde man ihn als Muskelpaket mit wenig Gehirn abtun. Wenn er aber gewann, war er gottähnlich, konnte zu Recht behaupten, mehr Körperkraft, aber auch mehr Geisteskraft zu besitzen als jeder andere.
    Saleh nahm die Herausforderung an. Burhaan trug sein Gedicht vor. (Großmutter sprach es für uns, sie kannte jedes Wort auswendig. Ich habe es leider vergessen,
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