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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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Neuerwerbung, seiner Kindsbraut, ab.
    Die Mutter meiner Großmutter war früh gestorben, und ihr Vater hatte wieder geheiratet. Seine neue Frau, die wohl nicht viel älter war als meine Großmutter, kam mit seiner Tochter nicht gut aus. Er löste das Problem, indem er sie verheiratete.
    Meine Großmutter versuchte es zunächst mit Flucht. Sie packte ein paar Sachen zusammen – ein guntiino -Tuch, ihr Messer, mit dem sie Grasmatten herstellte, vielleicht ein paar Lebensmittel –, füllte ihre Kürbisflasche mit Wasser und machte sich auf den Weg durch die Wüste, auf der Suche nach der Hütte ihres Vaters. Ich weiß nicht, wie viele Tage sie unterwegs war. Sie behauptete, man habe sie allseits bewundert dafür, dass sie unbeschadet zu ihrem Vater zurückgefunden hatte – war sie doch weder von wilden Tieren aufgefressen worden noch verhungert oder verdurstet, noch von umherziehenden Kamelhirten vergewaltigt worden. Doch ihr Vater und ihr Clan waren auch böse mit ihr, weil sie für künftige Bräute ihres Alters ein schlechtes Vorbild abgab und ihre Familie entehrt hatte.
    Man beschloss, dass sich meine Großmutter ein oder zwei Tage ausruhen durfte und anschließend zu ihrem rechtmäßigen Ehemann zurückgebracht werden sollte. Doch schon vor ihrer geplanten Abreise traf eine von ihrem Ehemann angeführte Suchmannschaft ein. Man nahm die Männer freundlich auf, gab ihnen zu essen und zu trinken und entschuldigte sich wortreich. Dann machten sie sich zum zweiten und letzten Mal mit meiner Großmutter auf den Weg.
    »Zwei Jahreszeiten später brachte ich eure Tante Hawo auf die Welt«, erzählte sie uns. Was meinte sie damit: zwei Trockenzeiten oder eine Trockenzeit gefolgt von einer Regenzeit? Woher sollte man das wissen? Ihre Methode der Zeitrechnung war höchst unzuverlässig, denn in Nordsomalia regnet es manchmal sehr lange nicht.
    Tante Hawo, also ein Mädchen. Für meine Großmutter war das eine schlechte Nachricht, aber sie war ja noch jung, und ihr Ehemann war bereit, ihr noch eine Chance zu geben: Bald würde sie ihm einen Jungen schenken. Doch nur einer ihrer Söhne überlebte das Säuglingsalter. Nachdem sie neun Töchter zur Welt gebracht hatte, heiratete mein Großvater erneut, denn er brauchte Söhne. Seine neue Frau gebar ihm drei Söhne hintereinander.
    Überwältigt von Scham und Wut packte Großmutter ihre Taschen und ging. Sie kehrte nie zurück. Mein Großvater starb etwa ein Jahr später, und meine Großmutter ließ keinen Zweifel daran, dass er gestorben war, weil er ohne sie nicht zurechtkam. Seine neue Frau war einfältig. Sie konnte ihm bei der Orientierung in der Wüste nicht helfen, indem sie den Wind schnupperte oder alte Spuren las. Sie gebar ihm zwar Söhne, verstand es aber nicht, sein Lager in Ordnung zu halten und die Ältesten aus seinem Unterclan und andere Gäste zu bewirten. Die Mahlzeiten servierte sie immer zu spät, und ihre Söhne waren unerzogen.
    Unter Großmutters harter Hand hatte die Karawane meines Großvaters wie am Schnürchen funktioniert und allseits Bewunderung und Neid hervorgerufen. Das war ihrer Opferbereitschaft zu verdanken, ihrer Ausdauer und Sorgfalt, harter Arbeit und Ehrgefühl. Als ihr Mann entschied, noch einmal zu heiraten, war das ein Schock – eine Beleidigung, Ausdruck seiner Undankbarkeit. All ihr Gefasel von Vornehmheit hielt Großmama nicht davon ab, ein zweites und letztes Mal vor ihrem Mann und seinem Besitz davonzulaufen.
    Allein, dass sie ihn verlassen konnte und nicht zurückgeholt wurde, war ein Zeichen dafür, dass sich etwas verändert hatte. An dieser Stelle fand ich Großmutters Haltung zur Moderne seltsam. Angeblich hatte sie nur Abscheu dafür übrig: die Ankunft der Weißen mit ihrer Technik und den überlegenen Waffen, mit denen sie die freien und stolzen Somalis unterdrückten, der Verlust der Wurzeln. Dabei vergaß sie anscheinend, dass sie ihre Welt freiwillig verlassen hatte, weil sie sich von ihrem Ehemann betrogen fühlte und es sie beschämte, dass seine Zweitfrau so erfolgreich Jungen gebar. Und sie vergaß anscheinend auch, dass sie nur gehen – und überleben – konnte, weil ihre Töchter in der moderner werdenden Gesellschaft, die sie so verabscheute, in der Lage waren, sich selbst zu ernähren.
    Schon als sie uns die alten Werte einbläute, war mir, glaube ich, klar, dass sie nicht mehr gültig waren, dass sie vielleicht nie gegolten hatten. Unser Ehemann werde unser Herrscher sein, lehrte sie uns, doch wenn wir gute
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