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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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Jahren, in denen sie mich aufzog, erinnere ich mich an keinen einzigen Tag, an dem sie nicht vom Tod sprach.
    Meine Mutter, Deine Großmutter, hatte es etwas besser als ihre Mutter. Sie brachte mich in der Stadt zur Welt, musste mich nicht unter einem Baum gebären und die Nabelschnur selbst durchtrennen. Ich wurde in einem Krankenhaus geboren, mit Ärzten und Krankenschwestern. Doch da ich ein Frühchen war und gerade einmal eineinhalb Kilo wog, gingen Ärzte, Krankenschwestern und Verwandte, die auf Besuch kamen, davon aus, dass ich sterben würde. Ma konnte nicht mehr tun, als mich auf ihren Bauch zu legen, Bettlaken um uns beide zu wickeln, mir den Rücken zu rubbeln und ein Lied für mich zu summen. Jeden Morgen und jeden Abend hörte sie meinen Herzschlag und mein Schreien, meine einzigen Lebenszeichen. Sie wollte mich haben. Anders als Oriana verschwendete sie keinen Gedanken daran, welche vielfältigen Probleme das Leben für mich bereithalten würde, was es für mich bedeuten würde, in eine Welt der Gewalt, der Korruption, der Folter, der Anarchie, des Umbruchs und unzähliger Krankheiten hineingeboren zu werden. Ma wollte nur, dass ich lebte, egal, was das Leben brachte.
    Meine Mutter gebar ein Kind nach dem anderen. Sie erlitt Fehlgeburten, wurde wieder schwanger, brachte ein Kind zur Welt, verlor es und wurde wieder schwanger. Jedes Mal, wenn mein Vater nach Abwesenheit nach Hause kam, wurde meine Mutter schwanger. Das letzte Kind war eine Totgeburt. Sein Name war Mohammed. Er wäre Dein jüngster Onkel gewesen, geboren 1979.
    Diese Abfolge von Schwangerschaft, Kindstod und Fehlgeburt muss man kennen. Gerade diese Erfahrungen Deiner Vormütter machen mich zuversichtlich, dass ich Deine Geburt riskieren sollte. In der Abfolge der vier Frauengenerationen – Dich zähle ich als vierte – sehe ich einen enormen Fortschritt in der Lebensqualität und Möglichkeiten für weitere Verbesserungen.
    Ich lebe heute in Orianas Welt, der Welt der Wissenschaften, in der man im Mutterleib Bilder von Dir als Embryo macht, der »von dem Embryo irgendeines anderen Säugetiers« nicht zu unterscheiden ist. Die Frauen gehen alle zwei Wochen zur ärztlichen Untersuchung, und nach zwei Monaten sagt der Arzt, diese Zeit sei ein »sehr heikles Übergangsstadium«. Ich lese Orianas Worte und ringe mit der Ironie, denn Deine Großmutter sagte immer: »Bei all der Wissenschaft und Bildung und dem Wissen, das die Ungläubigen anhäufen, begreifen sie nicht, dass jeder Teil des Lebens ein schwieriger Übergang ist!« Doch genau das bringt uns das Wissen. Als dritte Generation seit jener Frau in der Wildnis habe ich zu viel erfahren, als dass ich Dich völlig unbekümmert empfangen könnte. Wie Oriana muss ich mir Gedanken machen, ob Du überhaupt kommen willst. Möchtest Du in eine Welt der Gewalt, des Betrugs und der Korruption kommen? Willst Du das Leben?
    Die Alternative, so Oriana, sind das Nichts und die Stille. Hättest Du lieber das Nichts? Möchtest Du lieber bleiben, wo Du bist, in der Stille, die nicht der Tod ist, denn Du bist ja noch nicht am Leben gewesen?
    Diese wunderschöne, zerbrechliche Frau hielt in ihrer Wohnung meine Hand und sagte: »Lassen Sie Ihr Kind kommen.« Sie wusste es. Sie hatte sich für sich selbst eine Antwort erarbeitet, die mir sehr zusagte. Als sie schwanger wurde, riet ihr so gut wie jeder zur Abtreibung, doch sie wollte das nicht. Sie wollte ihr Baby.
    Oriana erzählte, wie ihre Umgebung das ungeborene Kind ablehnte: der Mann, der das Kind gezeugt hatte, der Arzt und die Krankenschwester, der Apotheker, ihr Chef, ihre beste Freundin. Alle rieten ihr, abzutreiben: »Denk doch an deine Karriere, eines Tages könnte es dir leid tun.« Eine alleinstehende Frau, die sich für ein Kind entschied, galt als verantwortungslos. Der Vater ihres Kindes erbot sich, die Hälfte der Abtreibungskosten zu bezahlen – nur die Hälfte, denn schließlich war die Schwangerschaft auch ihre Schuld.
    Meine Umgebung würde anders reagieren. Mein Arzt ist schwul. Als ich ihn fragte, ob ich Eizellen oder Embryos einfrieren lassen könnte, sagte er, das sei möglich, er rate aber davon ab. Da ich siebenunddreißig war, sagte er: »Bekommen Sie das Kind doch einfach. Sie sind eine gesunde Frau. Sie sind stark. Ich sehe keinen Grund für so drastische Maßnahmen.« Kein einziges Mal erwähnte er, dass es Nachteile für das Kind haben könnte, eine alleinerziehende Mutter zu haben. Mein Chef, der fast wie ein Adoptivvater
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