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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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für mich ist, würde jede Entscheidung unterstützen, wenn ich mit Dir schwanger wäre. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mir je zur Abtreibung raten würde. Meine besten Freunde, meine Kolleginnen – niemand würde sich mir in den Weg stellen.
    Ich habe hin und her überlegt, ob ich Dich, wie Oriana es vorhatte, allein bekommen oder Deinen Vater heiraten sollte. Ein Kind zu bekommen ist, wie sie sagt, eine persönliche Entscheidung. Der Meinung bin ich auch. Es ist nicht nur eine persönliche Entscheidung, sondern eine egoistische. Ich möchte Dich für mich haben, zu meinem Vergnügen, zur Bereicherung meiner Existenz. Ich möchte wissen, was es bedeutet, bedingungslos zu lieben und geliebt zu werden. Ich möchte wissen, wie es sich anfühlt, wenn Du in meinem Körper bist. »Nadeln der Unruhe bohren sich in meine Seele, wechseln sich mit Aufwallungen der Freude«, beschrieb Oriana den Beginn ihrer Schwangerschaft. Ich möchte spüren, wie Du in mir heranwächst. Ich möchte Dich in den Armen halten. Ich möchte Dich dem Leben übergeben. Ich will Dich. Und ich will Dich für mich.
    Was werde ich Dir als Gegenleistung geben? Erstens werde ich Dir beibringen, Entscheidungen zu treffen. Zu viele Wahlmöglichkeiten können uns ganz schwindlig machen, eine lähmende Angst in uns auslösen. Wenn Du es auf die Welt schaffst, wirst Du, anders als Deine Vormütter, allzu viele Wahlmöglichkeiten haben. Die richtige Entscheidung zu treffen ist häufig noch schwerer, als keine Wahl zu haben.
    Bildung – die Freude, der Schmerz und die Aufgabe des Lernens – wird Dir in Institutionen offen stehen, die Deine Großmütter nicht hatten: Kindergarten und Vorschule, Grundschule und weiterführende Schule, Ausbildung und Universität, Seminare und Austauschprogramme, Praktika und Graduiertenkonferenzen. Du wirst lesen und schreiben lernen, rechnen und singen, Du wirst die Fähigkeit entwickeln, Dich mit anderen anzufreunden und Kompromisse zu schließen, Du wirst wählen können zwischen Ballett, Zeichnen, klassischer Musik, Pop, Leichtathletik und Mannschaftssportarten. Du wirst Shakespeare schon in hübsch illustrierten Kinderbüchern kennenlernen und Mozart hören, während Du noch bei mir im Bauch bist. Du wirst in eine Welt voller technischer Geräte hineingeboren werden und selber jede Menge besitzen, zum Rechnen und zum Navigieren, zum Telefonieren und zum Nachrichtenschreiben, zum Lesen und zum Musikhören.
    Du wirst mich haben, Deinen Vater, eine Kinderfrau, Deine Lehrer und einen großen Kreis Erwachsener, die Dich allesamt ermutigen. Mit jedem neuen Jahr wirst Du lernen, neu festzulegen, was Dir wichtig ist. Vor allem aber musst Du lernen, aus all den Möglichkeiten, die wir Dir bieten, die richtigen auszuwählen.
    Ich habe eine völlig andere Ausbildung genossen als die, die Dich erwartet. In meiner Schule mussten wir ein weißes Hemd und einen grünen Rock tragen, weiße Socken und schwarze Schuhe, eine grüne Jacke und eine grüne Krawatte mit dem Schulemblem. Meine Krawatte saß immer schief, der oberste Knopf meines Hemds war immer offen, und meine Jacke hatte ich immer gerade irgendwo liegen lassen. Die Jahre auf der Highschool waren ein ständiger Kampf gegen Autoritäten.
    Meine Mutter schrieb mir vor, was ich zu tragen hatte, wann ich spielen durfte (nämlich so gut wie nie), was ich lesen und mit wem ich mich anfreunden sollte. Sie erlaubte es mir nicht, mich mit Mädchen, geschweige denn mit Jungen aus einer anderen Glaubensgemeinschaft anzufreunden. Sie verbot mir, Romane zu lesen und Musik zu hören. Schon auf die Frage, ob ich ins Kino dürfe, schrie sie mich an und drohte mit Schlägen. Die bloße Vorstellung, dass ich einen Freund haben könnte, war meiner Mutter ein Gräuel und ließ sie eine Litanei von Flüchen ausstoßen.
    Trotzdem hatte ich nichtmuslimische kenianische Freunde und Freunde aus Indien und dem Jemen. Ich las, was ich in die Hände bekam, und zwar praktisch unter der Nase meiner Mutter, denn ich versteckte die Romanseiten im Koran, dem einzigen Buch, das sie mir erlaubte. Ich schlich mich weg und besuchte meine Freunde, hörte ihre Musik und sah ihre Filme. Ich hatte sogar einen Freund. (Und das zu einer Zeit, als es noch kein Mobiltelefon, keine SMS und E-Mail gab.)
    Mein liebes Kind, wenn Du älter bist und den Übergang vom Mädchen zur Frau vollziehst, wird sich Dein Körper verändern. Du bekommst Brüste und rundere Hüften, die Lippen werden voller. Du wirst von Jungen
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