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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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mich an ihre Worte: »Darling, wenn der Krebs mich umbringt, werden viele feiern.« Ich gehöre zu denen, die über ihren Verlust trauern.
    Liebes Kind, Oriana ermutigte mich, Dich zu bekommen. Bei meinem kurzen Besuch erzählte sie mir, dass sie eine Fehlgeburt gehabt hatte. Monate später las ich ihr Buch Brief an ein nie geborenes Kind. Ich entnahm diesem Buch zweierlei: dass man sich frei entscheidet, Mutter zu werden, und dass die Liebe zwischen Frau und Mann ein »Riesenbetrug« ist. Ich stimme Oriana zu und auch wieder nicht. Frauen in meinen Lebensumständen können sich frei entscheiden, Mutter zu werden, viele andere aber nicht. Und die Liebe zwischen einem Mann und einer Frau ist kein Betrug.
    Zunächst zum Muttersein. Deine Urgroßmutter, mein Kind, konnte nicht entscheiden, ob sie Mutter werden wollte. Sie war etwa dreizehn, als sie an einen älteren Mann verheiratet wurde. Mit vierzehn wurde sie schwanger. Als sie sechzehn war, brachte sie Zwillinge zur Welt. Später erzählte sie stolz, dass sie allein entband, unter einem Baum, die Nabelschnur durchtrennte und abends nach Hause zurückkehrte, nicht nur mit den Babys, sondern auch mit ihrer Schaf- und Ziegenherde. Getrübt wurden Freude und Stolz nur dadurch, dass sie zwei Mädchen im Arm hatte und nicht zwei Knaben.
    Großmutter konnte in ihrem Leben nicht viel entscheiden. Die Jahreszeiten entschieden für sie. Da es kaum regnete, zog die Familie von Wasserloch zu Wasserloch. Manchmal wurde sie von wilden Tieren angegriffen, manchmal von feindlichen Sippen. Tiere und Menschen buhlten um grüne Weidegründe und Oasen, das karge Nahrungsangebot und sichere Lagerplätze. Das Leben meiner Großmutter pendelte zwischen auskömmlichen Zeiten, die als luxuriös galten, und solchen der Unterernährung, ja des Hungers. Immer wieder gab es Epidemien. Großmutter erzählte uns von Zeiten des duumo, der Malaria. Diese Epidemie breitet sich über Stechmücken aus, die das Blut ihrer Opfer saugen und dabei Parasiten zurücklassen. Wenn die Mütter morgens erwachten, war ihr Baby tot, nachdem der kleine Körper die ganze Nacht von Fieber geschüttelt worden war. Jammernd liefen sie zur Nachbarhütte und baten um Hilfe, doch auch dort war ein Kind gestorben, und eine Hütte weiter noch einmal zwei. Der Tod breitete sich von Hütte zu Hütte aus, kilometerweit. Junge Männer, Kinder, Frauen wurden plötzlich krank, bekamen Fieber und starben innerhalb weniger Wochen oder sogar Tage.
    Davon erzählte uns meine Großmutter, und auch von Frauen, die danach erneut schwanger wurden und Kinder zur Welt brachten, die wieder krank wurden und starben. Oder sie wurden von den Umständen überrascht, von der Ehe, vom Krieg und Schlimmerem. Mir kam es vor wie ein sinnloser Kreislauf aus Schmerz, Leid und Tod.
    Oriana Fallaci, die mutige, unbeirrbare und unerschrockene Frau, räumt in ihrem Brief an ihr nie geborenes Kind ein, dass sie Angst hatte. Nicht Angst vor dem Schmerz, vor dem Leid, nicht einmal vor dem Tod, sondern Angst vor ihrem Kind. Sie fürchtete, es könnte ihr vorwerfen, dass sie es in eine Welt der Gewalt, des Todes, des Schmerzes und des Elends gebracht hatte. Für Oriana ist das Leben mühevolle Arbeit, ein Krieg, der jeden Tag neu ausgefochten wird, und die Momente der Freude sind nur kurze Episoden, für die man einen schrecklichen Preis bezahlen muss.
    Mein Kind, die Welt war immer voller Angst, Schmerz und Leid. Täglich hören wir von Verkehrsunfällen, Bankrotten, Kriegen und Hunger. Von der Bedrohung durch Atomwaffen, dem Aufstieg von Diktatoren, Massenfluchten von Jungen und Mädchen, Männern und Frauen aus kriegsgeschüttelten Staaten, von Naturkatastrophen und von Menschen verursachten Heimsuchungen, die die Bewohner ganzer Dörfer obdachlos machen. Aus den Nachrichten erfahren wir nicht nur von dieser Zerstörung, sondern auch von künftigen Gefahren. So wird die Wasserknappheit in der nahen Zukunft das Leben von Millionen von Menschen bedrohen, und der steigende Meeresspiegel könnte bald ganze Städte verschlingen.
    Trotzdem möchte ich, dass Du in diese Welt kommst.
    Wenn ich an das Leben meiner Großmutter denke, bin ich für Dich von Optimismus erfüllt. Wir wussten nie genau, wie alt Großmama eigentlich war, schätzten aber, dass sie neunundachtzig wurde. Als sie starb, war sie von Kindern und Enkeln umgeben. Auch für Großmutter war das Leben mühevoll. Es gab Momente der Freude, manchmal sogar längere glückliche Zeitspannen. Doch in den
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