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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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glich dem anderen. Sie hatten nichts, wofür sie kämpfen konnten. Sie redeten sich ein, dass die Welt eine grässliche Bewährungsprobe sei, und erklärten sich für lebensmüde.
    Ich habe Angst davor, dass Du Deines Lebens müde werden könntest. Als einzige Gegenmaßnahme fällt mir ein, Dich wieder daran zu erinnern, wie hart das Leben Deiner Vorväter und Vormütter war, damit Du wertschätzen kannst, was Du hast. Das ist Deine Aufgabe und die Deiner Altersgenossen: nicht nur die Freiheit, die Du hast, zu bewahren, sondern sie auch mit denen zu teilen, die sie noch nicht haben.
    Sei auf der Hut vor Gehirnwäsche, mein Kind. Allah und seine Vertreter spielten in meiner Kindheit eine übermächtige Rolle. Ein gewisser Boqol Sawm versuchte uns beispielsweise so einzuschüchtern, dass wir vor lauter Angst fromm wurden. Ständig predigte er uns, dass wir für unsere Sünden in die Hölle kommen würden. Dort würden uns die hungrigen Flammen verzehren, wir würden in kochendes Öl getaucht, wieder geheilt und erneut von Kopf bis Fuß gebraten. Jedes Mal, wenn wir auf diese Art umkämen, würde Allah uns neu erschaffen, unserem Körper die zarte und empfindliche Haut wiedergeben. Dann würde er seinen Engeln wieder den Befehl erteilen, uns zu verbrennen. So würde es immer weitergehen, bis Allah überzeugt wäre, dass wir genug bestraft worden seien.
    Mit der Zeit entwickelten sich meine Versuche, mich sämtlichen Formen der Autorität zu entziehen, zu einer besonderen Würze in meinem Leben. Die wichtigen Lektionen des Pflichtbewusstseins und der Beharrlichkeit, die meine Mutter und meine Großmutter uns beibrachten, habe ich ebenso bewahrt wie die Leidenschaft für das Lernen, die einige Lehrer in der Highschool in mir geweckt haben. Mich inspirierte der Widerstand meines Vaters gegen die Staatsmacht, als er 1969 bis 1990 gegen die somalische Diktatur kämpfte. Doch ich wehrte mich gegen seine autoritäre Entscheidung, wann und wen ich heiraten sollte. Natürlich sorge ich mich darum, ob Du den richtigen Partner findest. Aber anders als mein Vater werde ich es Dir überlassen, Dir den Menschen, mit dem Du leben möchtest, selbst auszusuchen. Und wenn ich glaube, dass es der falsche für Dich ist, werde ich mein Urteil herunterschlucken, egal, wie schwer es mir fällt, und mich Dir fügen.
    Mein Kind, die Liebe zwischen Dir und mir ist bedingungslos. Wir werden uns vielleicht unwissentlich verletzen, die Entscheidungen der jeweils anderen, Freunde und Vorlieben missbilligen, aber egal, was geschieht, Du kannst Dich auf mich verlassen. Egal, wie alt Du bist, Dein Kummer wird auch mein Kummer sein, Dein Glück meine Freude. Die Liebe zwischen einem Mann und einer Frau ist kein Riesenbetrug, wie Oriana behauptete, aber sie ist nicht bedingungslos. Sie hängt davon ab, ob die Chemie stimmt, ob Ihr zusammenpasst, ob Temperament, Lebensstil, ja sogar das Einkommen passen, doch wenn Du Dich verliebst und diese Liebe auf Gegenseitigkeit beruht, dann ist das eine überaus mächtige Kraft. Die Liebe zwischen einem Mann und einer Frau kann großzügig sein, und das sollte sie auch. Leider, mein liebes Kind, wirst Du viele Geschichten hören, die von dem Wunsch handeln, sich gegenseitig zu besitzen, zu verändern, zu kontrollieren. Genau das aber tötet die Zuneigung und die Leidenschaft. Wenn Du kannst, vermeide das.
    Von meiner Reise in die Freiheit möchte ich Dir drei Werte vermitteln, und einen Fallstrick, vor dem Du Dich hüten solltest.
    Den ersten Wert, da bin ich mir sicher, wird man Dir in Deiner amerikanischen Schule eintrichtern. Es ist die Verantwortung. Ich habe schon viele Fehler gemacht, aber ich versuche immer, Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen. Ich bin impulsiv und ungeduldig, und manchmal willige ich in etwas ein, das ich eigentlich gar nicht tun will und kann. Aber wenn ich dann in aller Ruhe darüber nachdenke, was ich getan oder versäumt habe, komme ich meist zu dem Schluss, dass es allein meine Verantwortung war.
    Verknüpft mit der Verantwortung ist die Pflichterfüllung. Wie langweilig, wirst Du denken. Pflicht, was für ein ödes Wort. Doch es gibt Dinge im Leben, die nicht spannend sind, die keinen Spaß machen, die nicht gerecht sind oder uns nicht richtig erscheinen. Wir müssen sie trotzdem tun. Wann es mir möglich war, habe ich meine Familie unterstützt. Ich habe es getan, obwohl ich wusste, dass sie mir umgekehrt nicht unter die Arme greifen würden, und ich habe es auch nur selten
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