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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht
Autoren: J Berry
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haben deine Sachen am Fluss gefunden«, sagte Darrel. »Warum waren deine Sachen dort und du nicht?«
    »Pst«, zischte Mutter. Überrascht gehorchte Darrel.
    Vater hätte mich anders begrüßt, doch nun sollte ich seine Umarmung nie wieder spüren. Tatsächlich hatte ich nicht damit gerechnet, irgendjemanden aus meiner Familie noch einmal zu sehen.
    Auf dem Tisch stand Essen, aber niemand bot mir etwas an. Ich griff nach einem Stück Brot und biss hinein. Entsetzt beobachteten sie mich. Ich hatte schon vergessen, wie die junge Judith gegessen hatte – damals, als ich nicht wie eine Kuh hatte kauen müssen, um mein Essen aufzuweichen. Ich wandte mich ab.
    Mutter bezog mein Bett. Bislang hatte sie das Laken benutzt, um die Wollsäcke aufzubewahren. Sie folgte meinem Blick. In der Ecke stand ein Regal voller Flaschen mit Whiskey und Apfelwein. Früher hatte sie den Schnaps nur für ihre Familie hergestellt, heute lebte sie davon. Sie sah mich nicht an, sondern schlug die Bettdecke zurück und zog den Vorhang zu, der ihr einsames Bett von meinem trennte.
    In meiner alten Truhe waren Kleider von früher. Sie erinnerten mich an eine schönere Zeit, in der ich noch einen Vater und meine Würde hatte. Dass die Kleider noch dort waren, gab mir Hoffnung. Mutter hatte sich meiner nicht ganz entledigt. Mit Tränen in den Augen streifte ich ein altes Nachthemd über, das mir jetzt zu eng war. Ich legte mich hin und sah aus dem Fenster. Der Mond schien.
    LXV
    Mitten in der Nacht wachte ich auf und stand wie ein Geist vor dem Vorhang, hinter dem sich das Bett meiner Eltern befand. An manchen Stellen war der alte Stoff durchsichtig geworden und ließ ein paar Strahlen des Mondlichts auf meine Mutter fallen. Sie lag zusammengekrümmt auf ihrer Seite des Bettes, starrte an die Wand und streichelte das Kopfkissen meines Vaters.
    LXVI
    »Rühr weiter, Tochter, sonst wird die Butter nicht fest«, pflegte sie mir zu sagen. »Eine rechtschaffene Frau hat starke Arme und einen starken Rücken!«
    Ich wusste, dass sie stark war. Ihre Unterarme waren sehnig. Wenn sie bei der Arbeit die Ärmel hochkrempelte, konnte ich sie sehen. Sie hielt sich gerade und trug Kleider, die manch jüngere Frau gerne angezogen hätte, und doch wirkte sie kein bisschen zerbrechlich. Sie war der Inbegriff der Schöpfung. Sie erweckte die Dinge zum Leben.
    Ich hatte immer gedacht, dass ich eines Tages genau wie sie sein würde.
    LXVII
    Ich wollte ihr sagen, wie leid es mir tat, dass ich nachts zu Lottie hinaus geschlichen war. Dass ich so lange fort war und ihr so viel Leid bereitet hatte. Dass Vater auf der Suche nach mir krank wurde. Dass ich nun so bin.
    »Uuu leee, leeed . «Meine fürchterlichen Geräusche ließen Mutter zusammenzucken.
    »Sei still!«, sagte sie dann immer. »Du klingst wie eine Idiotin.«
    Tagelang erzählte sie niemandem von meiner Rückkehr und zwang sogar Darrel zum Schweigen. Als die Sache schließlich nicht länger geheim zu halten war, brachte sie mich zum Schuppen und sagte: »Du bist verstümmelt zurückgekommen. Nur Gott weiß, wie das geschehen ist. Aber die Leute im Dorf werden Angst vor dir haben. Sie werden sagen, du seist verflucht. Manche Männer könnten versuchen, deinen Zustand auszunutzen. Ich kenne meine Pflichten gegenüber meinem eigenen Fleisch und Blut. Ich werde dich beschützen. Aber du wirst auf mich hören und dich benehmen, wie es sich für eine junge Frau geziemt. Wenn du auch nur ein Wort sagst, das Schande über uns bringt, wirst du hier bei den Harken und Schaufeln schlafen.«
    Wo waren die Arme, die mich umfingen, als ich über die Felder nach Hause zurückkehrte? Wo waren die Augen, die früher amüsiert meine mickrigen Brotlaibe und krummen Nähte begutachtet hatten?
    Sie fasste mich am Kinn und zwang mich, ihr in die Augen zu sehen. »Du weißt, ich halte meine Versprechen.«
    Ich hielt dem Druck ihrer Finger gegen mein Kinn stand und nickte.
    »Gut«, sagte sie.
    LXVIII
    Er hatte mich mit den folgenden Worten zurückgeschickt:
    »Ich habe dich zweimal verschont. Erzähl niemandem von mir, sonst werde ich Roswell Station in die Luft jagen. Die denken sowieso nur an Gott im Himmel.«
    LXIX
    Die Bewohner von Roswell Station waren noch nie so verblüfft gewesen wie an dem Tag, als die Nachricht von meiner Rückkehr die Runde machte. Judith Finch war zurückgekehrt. Sie lebte, aber sie war stumm. Mutter versuchte, mich im Haus zu verstecken, aber Goody Pruett entdeckte mich. Sie kam eines Morgens vorbei und
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