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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht
Autoren: J Berry
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Mutter bleibt auch hier«, stellt sie fest, fast als sollte ich mich dessen schämen. »Und dein halbwüchsiger Bruder ist in den Kampf gezogen. Ihr seid nicht dumm, aber unvernünftig. Du kannst deiner Mutter ausrichten, dass Goody Pruett das gesagt hat. Obwohl – du kannst es ihr wohl doch nicht ausrichten. Wenigstens sagen das die Leute. Nun, schönen Tag noch.«
    LII
    Jip winselt und kratzt an der Baumrinde. Ich versuche, ihn mit etwas Milch zu beruhigen, aber er ist nicht durstig. Mit traurigem Blick wartet er auf deine Rückkehr. Sein langes graues Fell hängt ihm in die Augen. Der arme Hund weiß nicht, dass du nicht wiederkommen wirst.
    LIII
    Wie kann ich Brennholz sammeln, währen du dem Untergang entgegen gehst? Ich stelle mich auf Vaters Felsen und atme tief ein. Ich will das Leben schmecken, solange es geht.
    Kann ich nichts für dich tun, solange du noch am Leben bist?
    Erlösung. Wenn nicht von Gott, woher soll sie dann kommen?
    Vater, mein Vater, der du lebtest und gestorben bist, sprich zu mir, wenn du kannst.
    Ungebeten stürzen Bilder auf mich ein. Schießpulver. Schachteln. Sein Messer. Sein Gesicht.
    Das Munitionslager. Das verschwundene Waffenarsenal des Dorfes.
    Eine Explosion, die alles in Schutt und Asche legen sollte. Ein Colonel, der sich versteckt hatte und Schießpulver brauchte.
    Er wollte Krieg und nun hatte er die Mittel dazu.
    Zwei Jahre lang hatte ich gefangen inmitten dieses gestohlenen Schießpulvers verbracht.
    Zitternd sinke ich auf die Knie.
    LIV
    Es gibt also einen Ausweg.
    Jemand muss es wiederbeschaffen. Jemand, der genügend Kraft und Mut hat, dafür zu sterben.
    LV
    Es ist kein Mut. Es ist die Entscheidung für einen Tod, mit dem ich dir helfen könnte.
    Erst stirbst du, dann ich. Immerhin endet damit das Leid. Wenn du überlebst, wirst du heiraten – und wie könnte ich jeden Tag an deinem Haus vorübergehen, wenn Maria dort lebt? Soll meine Anwesenheit etwa dein neues Leben überschatten? Du musst am Leben bleiben, selbst wenn deine Hochzeit mir das Herz brechen wird.
    Ich könnte mich in den Fluss stürzen, der einst auch Lottie das Leben nahm, doch dann wärst du noch vor Einbruch der Nacht tot.
    Wenn irgendjemand dich und das Dorf retten kann, so weiß ich, wer und wo er ist. Vielleicht habe ich ja etwas, das er begehrt.
    LVI
    In ein paar Stunden wird alles, was ich kenne, verschwunden sein.
    Alle, die mich seit meiner Rückkehr verspottet, bespuckt oder ignoriert haben. Einst waren sie meine Nachbarn und Freunde, auch wenn ich nicht mehr zu ihren zähle.
    Selbst sie sind dieses Opfer wert.
    LVII
    Ich muss mich beeilen, bevor es zu spät ist oder mich die Angst von meinem Entschluss abbringt. Und doch mache ich bei meiner Weide eine Pause, klettere in das tief hängende Geäst und hänge meinen Erinnerungen nach.
    Lottie und ich wussten, dass wir einander hier stets treffen konnten. Es war unser geheimes Versteck. Hier flüsterten wir miteinander, ich zeigte ihr das vollkommene Ei eines Rotkehlchens und sie mir einen Kamm, der ihrer verstorbenen Mutter gehört und den sie heimlich an sich genommen hatte.
    Als sie zum ersten Mal verschwand, war mir gleich klar, dass sie weggelaufen war. Zwei Abende lang hatte ich hier auf sie gewartet. Ich wusste, dass sie hierher kommen und mir von ihrem Verehrer erzählen würde. Ich wartete, weil ich mir Sorgen um sie machte und weil ich nie hatte herausfinden können, mit welchem Jungen aus dem Dorf sie damals ausging.
    An dem Abend, als es passierte, wollte sie sich hier mit mir treffen. Ich saß im Geäst meiner Weide und beobachtete alles. Ich beobachtete den Mann, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte. Seither habe ich ihn immer wieder in meinen Albträumen beobachtet und manchmal Lotties Platz eingenommen.
    Als es vorbei war, kletterte ich hinunter, um nachzusehen, ob ich etwas tun konnte. Das war mein letzter Augenblick in Freiheit.
    Jetzt klettere ich wieder hinunter und gehe noch einmal den Weg, den ich an jenem Abend gegangen war.
    LVIII
    Ich folge dem Bach bis zur Flussmündung. Dann wende ich mich nach Westen und entferne mich immer weiter von der Stelle flussaufwärts, an der du mit den Männern wartest.
    Bald gelange ich zu den Stromschnellen. Hier wird der Fluss breiter; die Strömung bricht an den Felsen, auf denen ich den Fluss überquere.
    Ich lausche in die Klamm hinein, höre jedoch nichts als das Rauschen des Wassers, den Wind in den Baumkronen und die Rufe der Gänse, die nach Süden
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