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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht
Autoren: J Berry
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Trauben, also öffne ich die Tür und schleiche mich in dein Haus. Es ist so sauber, als seist du bereits verheiratet. Die Holzbalken, mit denen du auf dem verbrannten Fundament das neue Haus errichtet hast, sind noch ganz gelb. Es riecht nach süßen Pinien und altem Rauch.
    Die schlimmen Neuigkeiten haben meine Überraschung verdorben. Ich greife trotzdem nach einer Schüssel und schaufele eine Handvoll Trauben nach der anderen hinein. Die zerplatzten färben meine Finger violett.
    Etwas berührt meine Knöchel. Lächelnd bemerke ich Jip, der freudig mit dem Schwanz wedelt. Ich streichle ihn hinter den Ohren.
    Auf einmal höre ich Schritte. Ich erstarre.
    Du trittst aus der Schlafzimmertür und siehst mich.
    Du erschreckst dich, schreist und lässt die Stiefel fallen.
    Ein erstickter Schrei entfährt mir. Ich stelle die Schüssel ab und will fliehen.
    Du bist nackt. Halbnackt. Du trägst nur Hosen. Die Hosenträger liegen lose um deine Schultern.
    An der Tür packst du meine Hand.
    »Warte.« Du fängst an zu lachen und hältst mir den Eimer hin, den ich hatte stehen lassen. »Danke für die Trauben. Ich werde sie essen, bevor ich gehe.« Als dir einfällt, warum du gehen musst, lachst du nicht mehr. Du wirst in den Kampf ziehen.
    Wenn ich jetzt nicht weglaufe, wirst du meine Tränen sehen. Dein bloßer Körper ist nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. So nah war ich deiner Haut nicht mehr, seit du als Junge im Fluss geschwommen bist. Und ich werde ihr wohl auch nie wieder so nahe sein.
    Hier stehst du jetzt und es stört dich nicht, dass ich hier bin. Als sei Maria Johnson nie geboren und ich nie entführt worden. Als gäbe es heute Abend keinen Kampf.
    Ich kann nicht bleiben und weiß doch nicht, wie ich gehen soll.
    Du holst die Flinte deines Vaters und eine Schachtel aus Holz vom Regal. Auf der Schachtel sind Briefe abgebildet. Eigentlich will ich jetzt wirklich gehen, aber die Schachtel interessiert mich.
    Du bemerkst meine fragenden Blicke.
    Ich hätte schon längst gehen müssen. Deshalb zwinge ich mich nun mit aller Kraft dazu. Und gehe.
    XLVI
    P. U. Noch ein paar Buchstaben. R.
    Die Schachtel. Die Rückseite der Schachtel. Ich erinnere mich an viele solcher Schachteln. Aufeinander gestapelt standen sie an der Wand meiner Zelle, sodass ich die Aufschrift nie hatte sehen können.
    P, U und noch irgendetwas. Und dann kam, glaube ich, ein V.
    P, U, ein anderer Buchstabe, V, noch ein Buchstabe, R.
    Eines Morgens wachte ich auf, als er die Kisten in meine Zelle trug und um mich herum aufbaute. »Fass die nicht an«, warnte er. »Und zünde keine Kerze an, wenn du den kommenden Tag noch erleben willst.«
    Ich gehorchte, obwohl ich nicht das geringste Interesse am nächsten Tag hatte.
    P, U, V, R.
    Kerzen.
    Pulver.
    Schießpulver.
    XLVII
    Es heißt, die Männer werden vier Meilen am Flussufer entlang Richtung Osten marschieren, bis nach Roswell Landing. Dort wollen sie auf die Kämpfer warten, die unsere Boten zusammengetrommelt haben. Bei Roswell Landing wollen sie die Eindringlinge so lange aufhalten, wie es mit Steinen und Pistolen eben möglich ist.
    Aus der Schmiede tönt die ganze Nacht Lärm. Horace Bron hat jedes Stückchen Metall zusammengetragen, das er finden konnte, und gießt daraus Gewehrkugeln. Die Frauen bringen ihm ihre Pfannen, die Männer Nägel, Werkzeug und Hufeisen.
    Die Frauen sollen die Kinder in der Nacht nach Hunters Ferry acht Meilen südwestlich von hier bringen. Man hofft, dass die Homelander nicht bis dorthin vordringen werden – wenigstens nicht vor der Schneeschmelze im Frühling.
    Darrel wird mit den Männern gehen. Mutter wird hier bleiben und sich um die Verwundeten kümmern. Meine Mutter ist eine mutige Frau. Es könnte sein, dass die Homelander zu ihr kommen, bevor sie auch nur einem Verwundeten geholfen hat. Sie ist weder jung noch alt und sie ist stark. Wenn sie lächeln würde, wäre sie immer noch hübsch. Ich habe Angst um sie.
    Mich hat man vergessen. Ich kann tun, was ich will.
    Niemand isst. Niemand schläft. Du bringst Jip zu uns und bindest ihn an einen Baum vor dem Haus. Er winselt die halbe Nacht und hört erst auf, als ich ihm erlaube, es sich auf meinem Schoß gemütlich zu machen.
    Am Morgen melke ich die Kuh. Ihr Euter ist voll und schwer, bestimmt schmerzt er. Auch sie wurde vergessen. Im Krieg kann das schon mal vorkommen.
    Ich schöpfe die Sahne ab. Dann suche ich im Wald die letzten Blaubeeren dieses Herbsts und fülle sie für Darrel in eine Schale.
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