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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht
Autoren: J Berry
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auf die mir eigene Art antworten können. Alle künftigen Versuche von Rupert Gillis, ein Gespräch mit mir zu beginnen, wären damit beendet gewesen.
    Die Leute im Dorf werden ihn schon bald aufklären.
    XXX
    Roswell Station hat schon einiges mitgemacht.
    Krankheiten sind hier die Regel. Die Babys leiden unter der feuchten Meeresluft. Die Winter sind hart und zu lang. Frost kann die Ernte eines ganzen Jahres zerstören.
    Einst kämpften wir gegen Land raubende Homelander. Dein Vater war damals unser Held.
    In einem besonders trockenen Sommer wütete ein Feuer im Dorf. Damals verbrannte ein Drittel der Häuser.
    Ein anderes Mal flog das Waffenlager in die Luft und mit ihm auch all unsere Möglichkeiten, uns zu verteidigen.
    Deine Familie erlebte einen Skandal.
    Und in einem ganz bestimmten Sommer verschwanden zwei junge Mädchen im Abstand von wenigen Tagen.
    XXXI
    Seine untreue Frau habe ihn dazu getrieben, pflegte er zu sagen, und rammte sein Messer in die Wand.
    Mehr sagte er nicht. Den Rest wusste ich schon.
    Seine Frau und ihr Liebhaber waren nach Pinkerton geflohen, vielleicht auch nach Williamsborough. Möglicherweise lebten sie jetzt glücklich verliebt oder in gegenseitiger Abneigung in einer einsamen Hütte, viele Meilen weiter westlich.
    Sie waren weggegangen. Und er, der gutaussehende Mann, Colonel der Bürgerwehr, der wohlhabende Farmer und Diakon fand nichts, um seinen Durst zu stillen. Auch die Witwe Michaelson war nichts für ihn, obwohl sie bei seinem Anblick rot wurde, gut backen konnte, keine Kinder hatte und noch unter dreißig war.
    Wie schade.
    Jahrelang nagte etwas an ihm.
    Bis er ein Mädchen fand.
    XXXII
    Aus Sicht der Dorfbewohner hatte die Untreue seiner Frau ihn in den Alkohol getrieben, bis er schließlich sein Haus angezündet hatte und in den Wald geflohen war. Ein paar Meilen weiter wurde oberhalb eines Wasserfalls sein Mantel gefunden.
    Aus Sicht der Dorfbewohner starb er unehrenhaft. Aber für sie war er keine Bedrohung.
    Für sie war er kein Einsiedler, der viele Meilen nördlich am anderen Flussufer lebte.
    Er war nicht der Grund, weshalb Lottie Pratts nackter Körper angespült wurde.
    Er war nicht der Grund, weshalb Judith Finch nach zwei Jahren wieder auftauchte. Sie war für tot gehalten worden und schien jetzt geistig völlig verwirrt. Ihre halbe Zunge war herausgeschnitten worden.
    XXXIII
    Lotties Vater, der Witwer Abijah Pratt, hat keine Zähne mehr und nur noch den halben Verstand. Nach einer üblen Auseinandersetzung mit den Homelandern war Lottie alle s, was ihm geblieben war. Sie war ein braves, gehorsames Mädchen. Jetzt ist – wie Reverend Frye sagen würde – der ganze Mensch verwelkt.
    Er sieht mir nie in die Augen.
    Ich bin zurückgekehrt und Abijah Pratt hasst mich dafür, dass ich lebe.
    XXXIV
    Den Colonel hatte man zuletzt in jener Nacht lebend gesehen, in der sein Haus niederbrannte, wie kein Haus je brennen sollte, mit Knallen und Brüllen und so schnell, dass alles schon zu Asche zerfallen war, bevor jemand helfen konnte. Alles, was er besaß, war zerstört worden. Er war dorthin geflohen, wo niemand ihn finden würde.
    Du warst in jener Nacht nicht zu Hause. Es war Frühling, Angelsaison, und du warst mit dem Hund draußen auf Beutezug.
    Nach dem Knall lief das ganze Dorf mitten in der Nacht zusammen. Es sah aus, als hätte die Hölle sich aufgetan.
    Du bist mit dem Eimer zurückgerannt. Er fiel dir aus der Hand, als du die Stelle sahst, wo einst dein Haus gestanden hatte. Im Schein der Laternen, welche die Dorfbewohner mitgebracht hatten, sah man die zuckenden Würmer in deinem Eimer.
    XXXV
    In dieser Nacht nahmen meine Eltern dich mit nach Hause und ließen dich in Darrels Bett schlafen.
    Aber du konntest nicht schlafen. Und wir anderen auch nicht.
    Vater saß in jener Nacht noch lange mit dir am Kamin. Er hatte dir die Hand auf die Schulter gelegt und Jip lag zusammengerollt zu deinen Füßen.
    Du bliebst bei uns, bis Vater eine Gruppe von Männern zusammengetrommelt hatte, die dir beim Bau einer kleinen Hütte halfen – an genau jener Stelle, an der zuvor dein altes Haus gestanden hatte. Vater half dir, den Weizen zu säen. Er überzeugte den Dorfvorsteher, auf dem Kirchhof einen Grabstein für deinen Vater zu errichten. Du liebtest meinen Vater, weil er so viel für dich tat.
    Und doch fand ich dich in jenem Sommer manchmal am Fluss sitzend, die Füße im Wasser. Du starrtest mit leeren Augen in den Strom. Ich setzte mich neben dich und wir blickten
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