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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht
Autoren: J Berry
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fliegen.
    Flintenschüsse sind noch nicht zu hören.
    LIX
    Ich glaube nicht an Wunder, aber in Zeiten der Not kann ein Mädchen vielleicht doch ein Wunder bewirken.
    Auch wenn es dafür den Teufel um Hilfe bitten muss.
    LX
    Ein Wunder: dein sonnenwarmes Gesicht, deine grüngoldenen Augen, die zusehen, wie der Wind über das Weizenfeld tanzt. Deine Hände, die ein neugeborenes Lämmchen halten und es von der Fruchtblase befreien.
    Ein Wunder, das nie wahr werden kann: Dass dein Gesicht und deine Hände mir versprochen sind.
    LXI
    Die Gänse fliegen nach Süden. Sie rufen einander zu, folgen nun nicht mehr dem Fluss, sondern der Sonne. Für sie sind nicht die Eindringlinge eine Bedrohung, sondern einzig der Schuss des Jägers und den fürchten sie nicht. Bis zu dem Moment, in dem ihr Leben endet, sind sie frei. Sie kennen weder Schmerz noch Einsamkeit oder Furcht.
    Eichhörnchen huschen durch das trockene Laub und verschwinden in ihren Löchern. Kaninchen nehmen Witterung auf und machen sich davon. Ein Fuchs kreuzt meinen Weg.
    Plötzlich schweigt die Natur. Der Boden vibriert. Ich höre schnellen Hufschlag und schaffe es gerade noch rechtzeitig, auf einen Rotahorn zu klettern. Schon donnern die Reiter vorbei. Durch die purpurn-braunen Blätter zähle ich fünfundzwanzig Mann. Sie folgen den Gänsen Richtung Roswell Landing.
    Ich schließe die Augen und denke an dich. Du wirst dich so freuen, die Reiter zu sehen. Und die Hoffnung verlieren, wenn du bemerkst, wie wenige es sind.
    Am liebsten würde ich umkehren und im Gefolge der Reiter zu dir zurückkehren. Wenn du mich ließest, würde ich deine Angst mit Küssen vertreiben. Du fändest bei mir Ruhe. Ich würde an deiner Seite sterben und wäre glücklich.
    Aber würdest du das zulassen? Todesangst bringt Männer dazu, noch viel seltsamere Dinge zu tun.
    Soll ich zufrieden sterben, während du voll Sehnsucht stirbst?
    Als ich vom Baum hinabgleite, kratze ich meine Handgelenke und mein Gesicht an der rauen Rinde auf. Schnell gehe ich weiter.
    LXII
    Der Fluss bringt die feindlichen Schiffe in deine Nähe.
    Der Fluss brachte Lottie nach Hause. Doch sie starb nicht im Fluss.
    Das immerhin weiß ich.
    LXIII
    Ich komme näher. Ich habe Angst vor seinem Gesicht. Auf diesem lange vergessenen Weg konnte und wollte ich es mir nicht vorstellen. Er könnte tot sein. Einst hätte mir dieser Gedanke inneren Frieden gebracht, aber jetzt brauche ich ihn, so wahr mir Gott helfe! Ausgerechnet ihn!
    Alles sieht anders aus. Die Bäume stehen dichter, das Gestrüpp ist hoch gewachsen. Dennoch erkenne ich den schmalen Hohlweg wieder, der kaum mehr ist als ein Felsspalt und eigentlich nirgendwohin führen kann. Es ist der Eingang zu seinem kleinen Tal der Tränen und der Grund, warum er all die Jahre unentdeckt bleiben konnte.
    Geduckt zwänge ich mich durch den Spalt. Jetzt sehe ich sein Gesicht vor mir. Er ist fest entschlossen und hat nur ein Ziel. Ich blinzele. Das Bild verschwindet. In jede Hand nehme ich einen Stein vom Boden der Höhle. Meine Wut und meine Not dürfen mich jetzt nicht im Stich lassen.
    Der Geschmack von Blut, der Schmerzensschrei, die letzten deutlichen Worte, die ich hervorbrachte, der Anblick der gelben Augen eines Betrunkenen, seine erdrückende Größe, sein Gewicht, sein Geruch und die Hände, die mir den Mund zudrückten und mir die Stimme herausschnitten.
    Am Ende des Tunnels blendet mich das Tageslicht.
    Noch kann ich umkehren, aber mich würde nur Zerstörung erwarten.
    LXIV
    An jenem Abend, an dem ich heimkehrte, herrschte völlige Stille im Haus. Mutter sagte kein Wort. Darrel beobachtete mich wie ein verängstigtes Tier. In der Luft hing ein starker Geruch von Schnaps, der mich eher an den Colonel als an mein Zuhause erinnerte. Vater war nicht da.
    Ich deutete auf seinen Stuhl. Darrel schüttelte den Kopf.
    Ich wartete.
    »Gestorben», sagte er.
    Nicht Vater. Ich hätte nie gedacht, dass er jemals sterben könnte.
    Während ich fort war, hatte ich doch die ganze Zeit geglaubt, dass ich sterben würde.
    Mein Vater war tot. Meine Mutter war wie betäubt. Sein Stuhl war leer, sein Bett war leer. Die Blicke, die mir folgten, schienen zu sagen: Du trägst eine Mitschuld daran.
    »Er ist an der Trauer gestorben«, sagte Darrel und sah mich vorwurfsvoll an. »Er hat nicht aufgehört, nach dir zu suchen. Dann wurde er krank.«
    Wie oft hatte ich gebetet, er möge nach mir suchen? Doch ich wusste, dass er es tun würde. Ich betete, er möge mich finden.
    »Sie
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