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Ich bin der letzte Jude

Ich bin der letzte Jude

Titel: Ich bin der letzte Jude
Autoren: Chil Rajchman
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angesichts dieses furchtbaren Unglücks
sind wir hart wie Stein, wir können noch essen und dieses große Leid aushalten.
Wie kann man nur so stark sein und diese unnatürliche Kraft besitzen, das zu
ertragen?
    Wir stehen noch in der Baracke, als wir einen unserer
Freunde entdecken, Mojsche Etinger. Er fällt uns in die Arme, er klagt und
schluchzt. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hat, erzählt er, wie er am Vortag
schon nackt zur Gaskammer unterwegs war. Auf dem Weg lag ein Kleiderhaufen. Er
hat sich darin versteckt, eine Hose und eine Jacke gefunden und angezogen.
Neben ihm sortierte ein Jude Kleidungsstücke, und er bat ihn, ihm zu helfen und
ihm Schuhe zu geben. Zum Glück fand der andere ein Paar Schuhe und gab sie ihm.
Dann ist Mojsche aus seinem Loch gekrochen und hat sich ans Sortieren des
Haufens gemacht, in dem er sich versteckt hatte. Die anderen, die da waren,
haben ihm geholfen und erklärt, was er tun musste. So ist er dem Tod entkommen.
    Und jetzt steht er neben uns und weint. Er wird nicht fertig damit,
dass er sich gerettet hat, während seine Frau und sein Kind in den Tod gegangen
sind.
    Wir alle sind wie betäubt von der Vorstellung: Gestern haben die
Unsrigen noch gelebt, jetzt sind sie alle tot.
    Wir stehen da wie versteinert. Ich weine über das, was mit mir
geschehen ist, was ich erlebt habe.
    Da erhebt sich vom anderen Ende der Baracke her ein
Murmeln. Die unglücklichen Überlebenden dieses ersten Tages haben sich
zusammengetan, um das Abendgebet zu sprechen. Nach dem Beten sagen sie weinend
das Kaddisch, das Totengebet. Das weckt mich auf. Ich öffne die Augen: Ja, alle
hier sind unglückliche Waisenkinder, verfluchte Wesen. Ich verliere die Fassung
und schreie zu ihnen hinüber:
    »An wen richtet sich euer Gebet? Ihr glaubt immer noch? An wen
glaubt ihr? Wem dankt ihr? Dankt ihr dem Herrn für seine Gnade, dass er unsere Schwestern
und Brüder, unsere Väter und Mütter zu sich genommen hat? Seid ihr ihm dafür
dankbar? Nein! Und noch einmal nein! Das kann nicht sein! Es gibt keinen Gott.
Wenn es ihn gäbe, würde er einem so großen Unglück nicht zusehen, einem solchen
Unrecht, wenn Unschuldige und Neugeborene, wenn Menschen getötet werden, die
ehrlich arbeiten und der Welt Nutzen bringen wollen! Und ihr, lebende Zeugen dieses
Grauens, ihr dankt noch, aber wem denn?«
    Mein Kamerad Lejbl ist am Boden zerstört, er versucht mich
zu beruhigen:
    »Ist ja gut, du hast recht. Gestern haben meine Brüder und
Schwestern und ihre Kinder noch gelebt, und jetzt sind sie nicht mehr da.«
    Er will mich beruhigen, aber ganz erregt sagt er: »Schrei nicht,
Jechiel, du weißt doch, wo wir sind …«
    Und er schreit noch lauter als ich.
    Von Müdigkeit überwältigt, legen wir uns auf den Boden und stehen
nicht mehr auf. Mir fällt ein, wie schlecht ich meine arme Schwester behandelt
habe. Ein paar Minuten vor ihrem Tod habe ich sie daran gehindert, einen
Brotkanten zu essen, und sie ist mit leerem Magen in den Tod gegangen. Ob sie
mir verziehen hat? Diese Mörder haben uns sogar um den Verstand gebracht.
    Unser Leid streckt uns nieder. Es schlägt neun Uhr abends. Die
Baracke wird abgeschlossen, das Licht gelöscht. Ich bleibe die ganze Nacht auf
dem Boden liegen.

6
    Ich arbeite als Friseur.
Das Kleid meiner Schwester.
Der letzte Wille einer alten Jüdin.
Das Lachen eines jungen Mädchens.
Wir singen ein Lied.
    Um fünf Uhr morgens reißt uns ein Alarm aus dem Schlaf.
Wir gehen zur Küche, wo man uns Kaffee und Brot gibt. Um sechs Uhr beginnt die
Arbeit. Ich stelle fest, dass es mehrere Sortierkommandos gibt. Nachdem wir
alle zusammen – ungefähr siebenhundert Mann – gezählt worden sind, macht sich
jedes Kommando hinter seinem Kapo und seinem Vorarbeiter zur Arbeit auf. Mir
wird beim Kleidersortieren dieselbe Arbeit wie am Vortag zugeteilt. Ich
entdecke das Kleid, das meine Schwester getragen hat. Ich unterbreche die
Arbeit, nehme das Kleid in die Hand und betrachte es ein paar Augenblicke. Ich
zeige es meinem Nachbarn. Auch er hält einen Moment inne, er fühlt mit mir,
aber rasch fasst er sich wieder und schreit: »Nimm dich zusammen! Was soll das?
Unser Schicksal ist düster, aber denk an die Peitsche!«
    Ich reiße ein Stück Stoff ab und stecke es in meine Tasche. Ich habe
es zehn Monate aufbewahrt, so lange wie ich in Treblinka war.
    Die Uhr schlägt acht. Der Vorarbeiter brüllt: »Die Friseure!«
    Alle Friseure, zehn im Ganzen, fünf alte und die fünf neuen, stellen
sich neben ihm
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