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Ich beschütze dich

Ich beschütze dich

Titel: Ich beschütze dich
Autoren: Penny Hancock
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überlege, es zu überhören, aber dann muss ich aus Angst, wer es sein könnte, doch nachsehen. Ich spähe durch das Wohnzimmerfenster. Da ist niemand. Ich wasche mir das Gesicht, überquere den Hof und öffne die Tür in der Mauer einen Spaltbreit.
    »Wir haben versucht, Sie anzurufen, aber es hat sich niemand gemeldet. Wir dachten, Ihr Telefon funktioniert vielleicht nicht. Und wir haben keine Handynummer von Ihnen.« Es ist eine der Heimleiterinnen aus dem Seniorenwohnheim meiner Mutter. Sie hat losgelegt, bevor ich sagen konnte, dass ich keine Zeit habe. Es fuchst mich, wie sie schnaubend vor mir steht, die grimmigen, kleinen Augen in ihrem aufgedunsenen Gesicht vorwurfsvoll zusammengekniffen.
    »Ihre Mutter hatte einen Schlaganfall. Sie lebt, es geht ihr gut. Sie müssen keine Angst haben. Aber sie wurde in das Queen Elizabeth Hospital in Woolwich eingeliefert, und wir glauben, Sie sollten sie lieber besuchen.«
    Ich starre die Heimleiterin an. Sie hat einen kleinen, verkniffenen Mund. Gerade groß genug, um Wörter herauszupressen. »Lebt … gut … keine Angst.«
    Helen lebt nicht. Nichts ist gut. Natürlich habe ich Angst.
    Die Übelkeit, die mich überfallen hat, wird von einem seltsam tauben Gefühl verdrängt. Einen Moment lang befürchte ich, ich würde gestehen. Würde sagen, dass ich meine Mutter auf keinen Fall besuchen kann, weil ich gerade jemanden umgebracht habe.
    »Es tut mir leid, dass ich Ihnen so eine Hiobsbotschaft überbringen muss.«
    »Es geht ihr gut, haben Sie gesagt?«
    »Sie kann sprechen. Es war ein leichter Schlaganfall. Trotzdem …«
    »Danke.«
    Geh doch. Geh! Die Heimleiterin rührt sich nicht von der Stelle. Sie steht keuchend da, das Gesicht knallrot, als hätten die paar Schritte den Fußweg hinunter ihr beinahe den Rest gegeben.
    »’tschuldigung, junge Frau.« Der Postbote. Er gibt mir ein Paket, lächelt und hält mir dieses Gerät mit dem besonderen Stift hin. Ich unterschreibe, und er zieht pfeifend weiter. Da draußen ist ein ganz normaler Tag. Die Heimleiterin steht immer noch reglos da.
    »Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben. Ich werde nachsehen, was mit meinem Telefon los ist.« Ich mache ihr die Tür vor der Nase zu.
    »Gehen Sie lieber hin, sobald Sie können«, schnauft sie von der anderen Seite. »Sie würden es sich nie verzeihen, wenn Sie zu spät kommen. Bei Schlaganfällen weiß man nie.«
    Ich bringe das Paket ins Haus, stelle es auf den Küchentisch und sehe durch das Fenster zu, wie sie den Fußweg hinunterhumpelt.
    Ich werde so weitermachen, wie ich es vorher getan hätte. Ich werde meine Mutter im Krankenhaus besuchen. Unterwegs kaufe ich Blumen. Ich werde mich bei dem Pförtner bedanken, der mir die Eingangstür öffnet. Ich werde mit den Mitarbeitern am Schwesterntresen ein paar Höflichkeiten austauschen. Die anderen Frauen auf der Station anlächeln. Und sie werden zurücklächeln. Ich werde mich sogar mit der netten, jungen Ärztin über die Aussichten für meine Mutter unterhalten und ihr vielmals für ihre Zeit danken. Aber auch dann habe ich immer noch Helen getötet.
    Die Station meiner Mutter wimmelt vor weißhaarigen, alten Menschen. Ein paarmal glaube ich, ich hätte sie gefunden, bevor ich merke, dass das Gesicht nicht stimmt. Als mein Blick tatsächlich auf sie fällt, werde ich von kindlicher Erleichterung überwältigt. Meine Mama. Für die Schwestern ist sie vielleicht nur ein weiterer alter Mensch. Noch eine leere Hülle einer Frau, deren Wesen sich längst verloren hat. Aber für mich ist sie viel mehr, als wäre all das, was sie vor diesem Zustand ausgemacht hat, noch als Schichten unter ihrer durchscheinenden Haut zu sehen. Da schiebt sie in ihrem kurzen Sechziger-Jahre-Kleid den Kinderwagen von Silver Cross über den Fußweg am Fluss. Beugt sich spätabends über mein Bett in einer Wolke aus Gin und Chanel. Dann steht sie mit einer Dauerwelle aus den Siebzigern in der Küche und kocht Marmelade ein, in der Luft der beißende Geruch von Pomeranzen. Spätere Versionen von ihr marschieren im Kostüm zu ihrer Arbeit an der Privatschule. Wann hat sie aufgehört, mich zu lieben?
    Ich wünschte, sie würde mich in die Arme nehmen, mich wiegen, mir sagen, dass alles gut wird. Eine richtige Mutter sein. Nachdem ich sie beinahe für immer verloren hätte, will ich mehr von ihr, als sie mir je geben konnte.
    Ich beuge mich über sie, erfüllt von Wut und Mitleid. Wie kann das Alter es wagen, einem Menschen das anzutun? Sie öffnet ein
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