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Ich beschütze dich

Ich beschütze dich

Titel: Ich beschütze dich
Autoren: Penny Hancock
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Auge. Braucht einen Moment, um klar zu sehen. Dann spricht sie mit schiefem Mund. Ihre Aussprache ist undeutlich. Sie ist wie besessen davon, alte Schulzeugnisse zu bekommen, die irgendwo im Flusshaus verstaut sind.
    »Ich habe den falschen Koffer mitgenommen. Den Revelation. Als ich aus dem Flusshaus ausgezogen bin. Ich habe einen Preis bekommen für … ach, du weißt schon. In der fünften Klasse. Ich muss das Zeugnis lesen. Da stehen so nette Sachen drin.«
    »Mutter, ich weiß nicht, ob ich das jetzt finde. Du brauchst das doch nicht. Versuch, ruhiger zu werden.«
    Hilflos sehe ich die Schwester an, die ihren Wasserkrug füllt.
    »Sie können Ihrer Mutter ein Stück Sicherheit geben, wenn Sie ihr den Gefallen tun. Suchen Sie raus, was sie will, damit sie sich heimischer fühlt«, rät mir die Schwester.
    Also ziehe ich wieder los. Sonia, die Erwachsene, die sich um ihre kranke Mutter kümmert. Die tut, was ihr die Heimleiterin und die Krankenschwester auftragen. Eine gute Tochter. Wenn ich das getan habe, sage ich mir, wenn ich meine Pflicht erfüllt habe, kann ich wieder zu Jez gehen.
    Ich hole die Leiter vom Hof, bringe sie in mein Zimmer und lehne sie gegen die Falltür in der Decke.
    Der Dachboden ist viel zu niedrig, um ihn zu betreten. Ich kann nur den Arm durch das Loch stecken und im Dunkeln herumtasten. Ich greife ins Nichts. Spinnweben streichen sanft über mein Handgelenk. Als ich mit den Knöcheln gegen das Dach stoße, rieselt Staub herunter. Irgendwann schließen sich meine Finger um einen klobigen Koffergriff. Ich ziehe den Koffer vor, balanciere ihn auf der Leiter und lasse ihn langsam herunter.
    Beim Öffnen verströmt der Koffer den vertrauten Duft von Bienenwachs – so hat das Flusshaus damals bei meiner Mutter gerochen. Was sie alles aufbewahrt hat! Programmhefte aus dem Theater, Kochbücher, Kontoauszüge, Postkarten. Eine Geburtstagskarte von Kit, als sie klein war. Ich sehe sie mir genauer an. Sie steckt in einem Umschlag, der an meine Mutter im Flusshaus adressiert ist, zusammen mit einer Kette aus Plastikperlen zum Zusammenstecken in einem durchlaufenden Muster: rosa, orange, blau, rosa, orange, blau. Eine Kinderzeichnung von einem Mädchen mit einem dreieckigen Kleid, das eine ähnliche Kette trägt. Das versetzt mich zurück nach Norfolk, zu Kit, die mit einem neuen Kunstwerk in der Hand aus dem Kindergarten kommt. Daran, wie ich sie automatisch lobte. Wie ich mich mit ihr zu Hause hinsetzte und mit Bleistift auf ihren Bildern Wörter vorschrieb, die sie nachmalen konnte.
    Liebe Oma, du fehlst mir. Ich habe dich lieb, Kit xx
    Ich habe versucht, durch Kit die Liebe meiner Mutter zu gewinnen. Ich weiß nicht, ob die Zuneigung ihrer Enkelin sie gerührt hat. Falls ja, hat sie mir das nie gezeigt. Und trotzdem sehe ich jetzt, dass sie die Karten und Briefe aufgehoben hat. Sie wusste zu schätzen, was ihre Enkelin ihr entgegengebracht hat, auch wenn sie es bei mir zurückwies. Das zu wissen weckt einen Funken Wärme, vielleicht Hoffnung, tief in meinem Inneren.
    Als ich auf der Suche nach dem Zeugnis für meine Mutter alles durchsehe, finde ich ein Bündel Briefe, adressiert an mich, an Sonia, in dieser kleinen, säuberlichen Handschrift, die mir so vertraut war. Ich bin plötzlich so aufgeregt wie damals, wenn ich in der Mauer am Fußweg einen Brief von Seb an mich fand.
    Als ich begreife, was das bedeutet, dreht sich mir der Magen um. Jemand – meine Mutter? – muss unser Versteck gefunden und ein paar seiner Briefe weggenommen haben, bevor ich sie lesen konnte. Ich erstarre. Sie wurden mit einem Brieföffner aufgemacht, die Umschläge sind viel sauberer aufgeschlitzt, als ich es in meiner Ungeduld gemacht hätte. Die Briefe sind sortiert, der jüngste, datiert auf den fünften Februar, liegt als oberster auf dem Stapel. Mit zitternden Händen ziehe ich den Umschlag auseinander. Ein dünnes vergilbtes Blatt Papier gleitet heraus.
    Ich lese, was darauf steht.
    Nach einem zweiten Blick auf das Datum laufe ich über den Treppenabsatz in das Gästezimmer.
    Ich ziehe den Schuhkarton mit Sebs Sachen aus dem Schrank und suche den Brief heraus, den ich gelesen habe, als ich für Jez die Mundharmonika holen wollte. Er trägt einen Poststempel vom ersten Februar. Ich dachte immer, das sei der letzte Brief, den Seb mir je geschrieben hat. Jetzt finde ich heraus, dass es noch einen gibt, den ich nie bekommen habe. Ich öffne den ersten Brief und lese ihn noch einmal.
    Ich fahre zu der Isle of
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