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Ich beschütze dich

Ich beschütze dich

Titel: Ich beschütze dich
Autoren: Penny Hancock
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Dogs. Du musst auch da sein. Komm mit Tamasa !
    Er hat geschrieben, ich solle mit Tamasa kommen, also habe ich gehorcht. Ich habe immer gemacht, was Seb wollte. Natürlich habe ich mich nach seiner Bewunderung gesehnt. Und ich wollte beweisen, dass der Fluss ein Teil von mir war. Aber wenn ich diesen Brief gefunden hätte, den tatsächlich letzten Brief vom fünften Februar, wäre alles anders gekommen. Ich war Seb hörig. Ich hätte alles für ihn gemacht. Doch diesen Brief habe ich nicht bekommen, und deshalb bin ich mit dem Floß losgefahren.
    Ich lese beide Briefe noch einmal. Als ich fertig bin, fügen sich alle Bilder, die seit Jez’ Ankunft wiederaufgetaucht sind, in der richtigen Reihenfolge aneinander, wie Kits sorgsam zusammengesteckte Perlenkette.
    Der Abend, an dem ich Seb abholen wollte, bricht wie eine rauschende Flut über mich herein, auch die Teile, an die ich seit damals nicht denken konnte.
    Als ich das andere Ufer erreichte, war das Wetter umgeschlagen. Der Wind hatte aufgefrischt, und die Wolken hatten sich zusammengezogen. Ich kam nicht nah genug an die Pfähle heran, um anzulegen. Die Wellen waren unerbittlich, sie hoben das Floß hoch und schleuderten es gegen die Mauern. Regen fegte über den Fluss in mein Gesicht und trommelte auf den Landungssteg. Endlich gelang es mir, eine Fangleine über einen Pfosten zu werfen und Tamasa einzuholen. Dann kletterte ich auf den Holzsteg. Durch die dichten Wolken war es ungewöhnlich schnell dunkel geworden. So laut hatte ich den Fluss noch nie erlebt, die Wellen krachten, die Ketten rasselten, und das ganze Holzgerüst, auf dem ich jetzt stand, quietschte. Seb schrie mir etwas zu, aber ich konnte es nicht verstehen. Ich erinnere mich dunkel, dass er wütend aussah, statt sich wie erwartet zu freuen, mich zu sehen. Wieder rief er etwas, und ich verstand: »Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Ich hielt das nasse Seil fest, während Seb auf Tamasa hinuntersprang und erst einmal die Balance finden musste. In diesem Moment rollte die größte Welle heran, sie brüllte so ohrenbetäubend, dass wir uns nicht einmal mehr hören konnten. Kurz darauf folgte eine zweite, weitere strömten nach und prallten mit ihnen zusammen, hoben Tamasa an und ließen sie kentern wie ein Papierboot. Ich hielt das Seil mit ganzer Kraft gepackt, obwohl es nass und schleimig war und über meine Handflächen scheuerte. Das Floß tauchte wieder auf, aber Seb trieb schon im Fluss.
    »Seb!«, schrie ich.
    In dem Wind klatschten mir die Haare ins Gesicht, bis ich nichts mehr sah. Ich konnte das Seil nicht loslassen, um sie mir aus den Augen zu wischen. Als ich sie endlich zurückschleudern konnte, war Seb nur noch ein undeutlicher Schemen in der Dunkelheit, das blasse Oval seines Gesichts tauchte aus dem Wasser auf, ging wieder unter. Mit einem Arm klammerte er sich an Tamasa , an ihren jämmerlichen Schwimmkörper. Ich zerrte wieder an dem Seil und versuchte, das Floß ans Ufer zu holen, aber die Wellen arbeiteten gegen mich, und als die Kraft in meinen Armen nachließ, wusste ich, dass ich dieses schreckliche Tauziehen verlieren würde.
    »Hilfe!« In dem Getöse von Wasser und Wind und Regen konnte ich seine Worte gerade noch hören. »Lass nicht los, Sonia. Halt fest! Halt um Himmels willen fest.«
    Und als er von mir weg auf ein Geflecht aus Ketten und Seilen unter der nächsten Pfahlreihe zutrieb, packte ich das Seil fester und zog mit ganzer Kraft.

K APITEL N EUNUNDDREISSIG
    Mittwoch
    Sonia
    »Ich habe dir deine Sachen gebracht.«
    »Gib mal …« Meine Mutter deutet mit einem schlaffen, zittrigen Finger auf einen Handspiegel auf ihrem Nachttisch.
    Für ihre Eitelkeit wird meine Mutter nie zu alt oder zu krank sein. Darum werde ich mich kümmern müssen, weil kein anderer da ist. Die Schwestern haben heutzutage keine Zeit für praktische Handreichungen. Es wird an mir hängen bleiben, ihr die Haare zu waschen, die Nägel zu schneiden und die Zähne zu putzen. Eine sonderbare Vertrautheit, nachdem wir uns unser Leben lang kaum berührt haben. Sie zupft kläglich an einem langen, weißen Haar an ihrem Kinn und runzelt die Stirn. Als ich nach ihrer Pinzette greife, überlege ich, ob ich sie lieber nicht mit dem Brief belästigen sollte. Ob ich die Vergangenheit in dem alten, grauen Ablagekasten ruhen lassen sollte, wie wir auch alles andere immer taktvoll begraben haben, was Seb betraf.
    Ich pudere ihr die Nase und trage das Rouge auf, das sie seit fünfundzwanzig Jahren benutzt.
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