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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus
Autoren: Martin Wehrle
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Kundenwünsche einzugehen!«, protestierte ich.
    Â»Sie leiten kein Nachtasyl, sondern fahren einen Nachtbus!«
    Â»Aber die Fahrgäste …«
    Â»Sie haben zur Abfahrtszeit die Tür zu schließen, selbst wenn die Nase des Kunden dazwischen steckt. Die Leute müssen lernen, dass unsere Fahrpläne verbindlich sind.«
    Â»Soll ich eine behinderte Frau, die zum Einsteigen länger braucht, wirklich an der Haltestelle stehen lassen?«
    Â»Halten Sie sich an Ihre Fahrpläne!«
    Auseinandersetzungen dieser Art hatte ich mehrfach mit ihm, bis er sagte: »Jetzt reicht es mir mit Ihnen. Das Maß ist voll!«
    Am nächsten Tag entdeckte ich in meinem Rückspiegel das Unfall-Betreuungs-Fahrzeug, das unseren Bussen eigentlich nur bei Pannen zur Hilfe kommt. Es parkte hinter meiner Haltestelle und verfolgte mich durch die ganze Stadt. Ich wurde kontrolliert, das machte mich verrückt. Bald schaute ich mehr in den Rückspiegel als auf die Straße.
    In den nächsten Wochen wich das Fahrzeug nicht mehr von meiner Stoßstange. Und jedes Mal, wenn ich die Bushaltestelle mehr als eine Minute nach der im Fahrplan vorgesehenen Zeit verließ, meist weil ich noch verspätete Fahrgäste in den Bus gelassen hatte, drückte mir mein Schichtleiter am nächsten Tag eine Abmahnung in die Hand. Es dauerte vier Monate, dann war ich nach der dritten Abmahnung entlassen.
    Ein Gericht hob diese Kündigung wieder auf. Doch die Firma nahm zwei neue, ebenso fadenscheinige Anläufe. Beim letzten Versuch klappte es: Das Arbeitsgericht segnete die Entlassung ab. Nach 26 Jahren landete ich auf der Straße.
    Heute bin ich angestellter Taxifahrer in Hamburg – und darf für jeden Gast so lange warten, wie ich es für richtig halte. Das genieße ich. Auch wenn ich für mein altes Gehalt heute 70 Stun ­den pro Woche arbeiten muss. Aber das wäre eine andere Geschichte.
    Costa Galanis, Taxifahrer
    Betr.: Warum Sprinter eine höhere
Abfindung bekommen
    Unser Konzern tat wieder einmal, was er am besten kann: Er baute Mitarbeiter ab. Ende des Jahres kündigte das Mana­gement an, im Zuge einer Fusion hätten 500 Mitarbeiter die »Chance«, mit einer »großzügigen Abfindung« auszuscheiden. Jeder Abteilungsleiter war aufgefordert, in seinem Bereich eine vorgegebene Quote absprungwilliger Kandidaten zu ermitteln.
    Doch die Lage in unserer Branche war angespannt, es fanden sich zu wenig Ausstiegswillige. Das Management half nach: Man erfand die »Sprinter-Prämie«. Vielleicht stammte die Idee von einer Werbeagentur, die ausnahmsweise nicht Schokopralinen, sondern den Verlust des eigenen Arbeitsplatzes schmackhaft machen wollte. Wer bis zum Quartalsende seinem Ausscheiden zustimmte, sollte auf seine Abfindung einen Zuschlag von 20 Prozent bekommen – die Sprinter-Prämie.
    Ich war skeptisch und hielt an meinem Arbeitsplatz fest. Doch bei vielen Kollegen wirkte der Zeitdruck: Sie gingen davon aus, über kurz oder lang ohnehin abgestoßen zu werden. Je näher das Quartalsende rückte, desto mehr »Sprinter« flitzten in die Chefbüros, um zu verhandeln.
    Maßstab für die Abfindungen war: ein halbes Monatsgehalt pro Jahr der Betriebszugehörigkeit. Wer 3500 Euro verdient und seit 20 Jahren für die Firma arbeitete, kam folglich auf 35 000 Euro. Und 20 Prozent, also 7000 Euro, legte die Firma als »Sprinter-Prämie« obendrauf. Viele Kollegen gaben freiwillig ihren Arbeitsplatz auf und rieben sich auch noch die Hände, als hätten sie das Geschäft ihres Lebens gemacht.
    Die Entlassungs-Quote wurde dennoch nicht erfüllt. Deshalb begann die Firma ein halbes Jahr später, gezielt Mitarbeiter zu mobben und mit fadenscheinigen Begründungen zu entlassen. Die meisten klagten auf Wiedereinstellung. Die Erfolgsaussichten waren gut.
    Was konnte die Firma tun, um ihre Mitarbeiter dazu zu bringen, ihre gerichtlichen Ansprüche aufzugeben? Sie winkte mit fetten Abfindungen. Die Beträge schaukelten sich in den Anwaltsgesprächen nach oben. Von einem Kollegen weiß ich, dass er pro Dienstjahr ein ganzes Monatsgehalt rausholte, also ein Plus von 100 Prozent – das Fünffache von dem, womit sich die Sprinter hatten abspeisen lassen.
    Die Sprinter-Prämie war nur ein Köder gewesen, um Mitarbeiter aus der Firma zu locken – ein billiger Trick, der die Kollegen
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