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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus
Autoren: Martin Wehrle
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Putzen reicht es vielleicht gerade noch, aber für eine leitende Position wie diese sind Sie völlig ungeeignet.«
    Die Filialleiterin sprang auf und ließ Dettmann sitzen. Der stürmte wütend aus der Filiale.
    Ein paar Minuten später verlassen die beiden Frauen das Geschäft und laufen über den Parkplatz. Ein Motor heult auf in der Dunkelheit, Reifen quietschen. Zwei Scheinwerfer bohren Löcher in die Nacht. Die beiden Frauen sind geblendet. Ein Auto rast auf sie zu. Der Motor brüllt. Im letzten Moment springen sie zur Seite. Ein blauer Audi braust ins Dunkel. Ein Auto, wie es der Ver kaufsleiter Dettmann fuhr. Versuchter Mord? Vielleicht. Versuchte Einschüchterung? Ganz sicher!
    Was sich wie ein Kriminalroman liest, ist ein spektakulärer Tatsachenbericht: »Ihr kriegt mich nicht klein« heißt das Buch von Ulrike Schramm-de Robertis, in dem sie dieses Erlebnis beschreibt und Lidl als waschechtes Irrenhaus enttarnt. 84
    Ich durfte diese mutige Frau in der Talkshow von Markus Lanz kennenlernen. Dort erzählte sie, wie ihr Leben durch die Schikanen ihres Arbeitgebers so lange vergiftet wurde, bis sie – mehrfache und liebende Mutter – eines Tages auf der Heimfahrt von der Arbeit ernsthaft darüber nachdachte, ihr Auto gegen einen Baum zu steuern.
    Wer dieses Buch liest, diese Innenansicht eines Irrenhauses, der stellt sich beim Werbeslogan »Lidl lohnt sich« die Frage: für wen? Für Mitarbeiter, die ihre gesetzlichen Rechte wahrnehmen wollen, ganz sicher nicht! Das Sündenregister von Ulrike Schramm-de Robertis umfasst nur zwei Schandtaten: Sie hat ihr Recht auf Meinungsfreiheit wahrgenommen, auch gegenüber Journalisten. Und sie hat sich – Todsünde! – dazu erdreistet, den bundesweit (zeitweise) einzigen gewerkschaftlich engagieren Betriebsrat bei Lidl auf den Weg zu bringen.
    Die Insassin resümiert: »Es ist, als hätte ich eine ansteckende Krankheit und müsste in Quarantäne gehalten werden – eine Krankheit namens Betriebsrat.« Das Irrenhaus mit über 30 Milliarden Jahresumsatz zitterte vor einer kleinen Mitarbeiterin. 85 Dabei tat diese nur das, was in Deutschland ihr gutes Recht ist: Sie engagierte sich als Betriebsrätin.
    In Firmen mit mindestens fünf wahlberechtigten Arbeitnehmern dürfen Betriebsräte gegründet und alle vier Jahre neu ­gewählt werden. Diese Räte vertreten die Interessen der Beschäftigten und sind laut Gesetz zu einer »vertrauensvollen Zusammenarbeit« mit dem Arbeitgeber verpflichtet. Bei wirtschaftlichen Entscheidungen, etwa Sortiments-Beschlüssen, haben sie nichts zu melden. Dafür werden sie vor Kündigungen gehört, bestimmen bei Überstunden oder Kurzarbeit mit und können Betriebsvereinbarungen treffen.
    Warum, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, fürchtet Lidl den Betriebsrat? Gibt es in diesem Irrenhaus nicht nur billige Lebensmittel, sondern auch billige Tricks gegenüber der Belegschaft – wie vor einigen Jahren, als man Mitarbeiter heimlich mit Miniaturkameras ausspähte, ihre Toilettengänge festhielt und über ihre Liebesverhältnisse mutmaßte? 86
    Mit aller Macht kämpft der Discounter gegen Arbeitnehmer-Vertretungen. 87 Zwei Filialen mit Betriebsräten – die einzigen weit und breit – liquidierte man auf heimtückische Weise: Die eine Niederlassung wurde von der Irrenhaus-Zentrale ausgegliedert, zum Restpostenmarkt erklärt und der »Schnapp’s Discount GmbH« zugeordnet. Durch diesen Taschenspieler-Trick war man den lästigen Betriebsrat los.
    In der anderen Filiale, in Calw, in der es ebenfalls einen Betriebsrat gab, radierten die Irrenhaus-Direktoren gleich die ganze Niederlassung aus. Damit war auch dieser Betriebsrat erledigt, wohl um einen Gesamtbetriebsrat zu verhindern. Als hätte es sich dabei um ein gefährliches Raubtier gehandelt! Ich dachte an George Bernard Shaw: »Wenn ein Mensch einen Tiger tötet, spricht man von Sport. Wenn ein Tiger einen Menschen tötet, ist das Grausamkeit.«
    Doch einen Risikofaktor gab es bei Lidl noch immer: Ulrike Schramm-de Robertis, die Frau mit der ansteckenden Betriebsrats-Krankheit. Immer wieder traf sie auf Filialleiterkollegen, zum Beispiel bei Fortbildungen. Bestand da nicht höchste Ansteckungsgefahr? Offenbar sah die Konzernleitung darin tatsächlich ein Risiko. Denn bald ereignete sich
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