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Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)

Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)

Titel: Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)
Autoren: Serhij Zhadan
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man vom Gouverneur ja im Prinzip gar nicht. Schließlich muß jeder sehen, wo er bleibt, Hauptsache, ein reines Gewissen und die Steuererklärung rechtzeitig abgeben.
    San Sanytsch habe ich im Wahlkampf kennengelernt. Er sah aus wie knapp vierzig, war aber in Wirklichkeit Jahrgang 74. Das Leben ist einfach stärker als die Gene, dafür war Sanytsch der beste Beweis. Er trug eine Jacke aus schwarzem, knarzendem Leder und eine Kanone, Typ Durchschnittsbandit, wenn ich mich verständlich ausdrücke. Für einen Banditen war er allerdings viel zu melancholisch, er telefonierte wenig, nur manchmal rief er seine Mutter an, während er selbst, soweit ich mich erinnere, überhaupt nie angerufen wurde. Er stellte sich als San Sanytsch vor und überreichte mir feierlich eine Visitenkarte aus Kreidepapier, auf der in Goldbuchstaben »San Sanytsch, Rechtsschutz« stand, darunter ein paar Telefonnummern mit Londoner Vorwahl, Sanytsch sagte, das seien die Büronummern, was für ein Büro, fragte ich, aber er antwortete nicht. Wir freundeten uns an, kaum daß wir uns kennengelernt hatten, Sanytsch holte die Knarre aus der Jackentasche, sagte, er sei für ehrliche Wahlen, und erklärte, er könne, wenn nötig, hundert solcher Knarren besorgen. Er hatte seine eigene Vorstellung von ehrlichenWahlen, warum nicht. Außerdem erzählte er von einem Bekannten bei »Dynamo«, der in seinem Bastelkeller Startpistolen in echte ummodelte. Schau, sagte er, wenn man diesen Scheiß hier absäbelt – er zeigte mir, wo sich offensichtlich früher der inzwischen abgesäbelte Scheiß befunden hatte –, lassen sie sich mit normalen Patronen laden, und der Hauptvorteil ist, daß die Miliz nichts dagegen haben kann – ist ja eine Startpistole. Wenn du willst, kann ich dir eine Partie besorgen, vierzig Grüne das Stück, plus zehn, um den Scheiß abzusäbeln. Wenn nötig, organisier ich dir auch einen Dynamo-Mitgliedsausweis, for full legalization. Sanytsch liebte Waffen, und noch mehr liebte er es, von ihnen zu reden. Mit der Zeit wurde ich sein bester Kumpel.
    Eines Tages erzählte er mir dann vom Klub, es rutschte ihm so raus, daß er, bevor er zum Rechtsschutz ging und sich für freie Wahlen engagierte, im Klub-Business gewesen und, wie sich herausstellte, direkt am ersten offiziellen Schwulenklub der Stadt beteiligt war, ebenjenem Phantom-Laden, den unsere progressive Jugend so lange vergeblich niederzubrennen versucht hatte. Ich bat ihn, mir mehr davon zu erzählen, und er tat es, okay, kein Problem, alles längst Geschichte, also warum nicht.
    Und er erzählte ungefähr folgendes.
    Wie sich herausstellte, war er Mitglied der Assoziation »Boxer für Gerechtigkeit und soziale Adaptation« gewesen. Er erzählte nur wenig davon; sie waren bei »Dynamo« als Bürgerinitiative ehemaliger Leistungssportler entstanden. Womit genau sich die »Boxer für Gerechtigkeit« beschäftigten,blieb unklar, aber die Sterblichkeit in den Reihen der Assoziation war hoch, jeden Monat wurde mindestens einer von ihnen abgeknallt, und es folgte ein üppiger Leichenschmaus in Anwesenheit hoher Milizoffiziere und leitender Beamter der Gebietsverwaltung. Alle paar Monate organisierten die »Boxer für Gerechtigkeit« ein Freundschaftsspiel mit der polnischen Auswahl, so nannten sie es jedenfalls, vor dem Büro fuhren Busse vor, wurden mit Boxern und einem Haufen einheimischer Elektro- und Haushaltsgeräte beladen, und die Karawane zog los Richtung Polen. Die Bosse von der Gebietsverwaltung und das Trainerteam reisten getrennt. In Warschau angekommen, gingen die Boxer ins Stadion und vertickten die Ware im Dutzend billiger, woraufhin sie den erneuten Sieg der vaterländischen paralympischen Bewegung ordentlich feierten. Das Interessante war, daß Sanytsch gar kein Boxer war. Sanytsch war Kämpfer. Nicht etwa für Gerechtigkeit und soziale Adaptation, sondern Ringkämpfer. Zum Ringkampf war er durch seinen Opa gekommen, seinerzeit, in den Nachkriegsjahren, hatte sein Opa das Ringen ernsthaft betrieben und sogar an der Spartakiade der Völker der Sowjetunion teilgenommen, wo man ihm den Arm brach, worauf er unheimlich stolz war, nicht auf den gebrochenen Arm natürlich, sondern daß er an der Spartakiade teilgenommen hatte. Über seinen Opa also kam er zu »Dynamo«. Sanytsch erzielte erste Erfolge. Nahm an städtischen Turnieren teil, gehörte zu den Hoffnungsträgern, doch nach ein paar Jahren brach man auch ihm den Arm. Da war er schon mit der Schule fertig und versuchte,
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