Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle
Autoren: Jürgen Ebertowski
Vom Netzwerk:
der beständig wiederkam, obwohl er ein glückliches Ende
genommen hatte.
    Schon über Potsdam war vom Piloten
angedeutet worden, dass sie es nicht bis Schleswig schaffen würden, weil einer
der Motoren Probleme bereitet hatte. Über Funk hatte es dann eine Warnung vor
starken feindlichen Luftbewegungen im Raum Mecklenburg, Hamburg und Kiel
gegeben. Kurz darauf war der Funkverkehr gestört worden und das Flugzeug
daraufhin die ganze Zeit über im gewagten Tiefflug an Magdeburg vorbei nach
Westen geflogen.
    Vera hatte nie an Schutzengel geglaubt,
aber dennoch am eigenen Leibe erfahren, dass es diese barmherzigen Wesen gab.
Die Lazarettmaschine war sowohl dem mörderischen Feuerring um Berlin als auch den
Rotten an Nachtjägern entgangen, als der Pilot sie schließlich mit rauchendem
Propeller hart auf der schmalen Landstraße niederbrachte.
    Heerscharen von Schutzengeln waren es
gewesen.
    Noch bevor die Maschine, deren rechte Tragfläche im
Ausrollen mit einem Baum kollidierte, in Flammen aufgegangen war, hatten sich
alle Insassen, auch die Schwerverwundeten, mithilfe des Begleitpersonals retten
können. Erst dann hatte Vera, die mit dem Kopf beim Zerbersten der Tragfläche
gegen eine Metallstrebe der Bordwand geschleudert worden war, das Bewusstsein
verloren. Seitdem hatte Brian, wann immer es ihm möglich war, sich ihrer fast
wie einer Tochter angenommen.
    »You look much better now«,
komplimentierte Leutnant Brown sie wieder in den Fond des Wagens.
    »Thank you. But only with the
help of some colour. I still feel very beaten.« Vera schlug den Mantelkragen hoch, ließ sich auf die Rückbank fallen
und schwieg.
    Colonel Teasdales Adjutant verstand, dass sie sich nicht weiter mit ihm
unterhalten wollte, und konzentrierte sich fortan ausschließlich auf die
verschneiten Straßen. Hin und wieder musterte er Vera verstohlen im Rückspiegel
und fragte sich, wieso der Colonel so einen Narren an der Frau gefressen
hatte, dass er sich von ihr so hinhalten ließ. ›Gewiss, sie ist gut gebaut,
spricht auch ausgezeichnet Englisch, aber was, zum Teufel‹, dachte Leutnant
Brown, ›nützt einem eine schöne Frau, wenn man sie immer nur ansieht, mit ihr
redet, sie zum Essen ausführt, ohne auch nur ein Mal mit ihr ins Bett zu
steigen?‹ Hätten der Colonel und dieses »Froilein« etwas miteinander gehabt,
wäre es ihm bestimmt nicht entgangen, denn als persönlicher Adjutant kannte er
quasi jeden Schritt seines Vorgesetzten. Und seit dem Autounfall fuhr der nur
noch selten selbst. Nach allen Treffen hatte Brown Vera jedes Mal allein in die
Stadtrandsiedlung zurückchauffiert. ›Merkwürdiger Bursche überhaupt, der Alte‹,
überlegte er. ›Könnte bei seinem Rang Mädels wie Sand am Meer abschleppen und
begnügt sich mit gelegentlichen Plauderstündchen.‹ Der Leutnant wich einer
Schneewehe aus. Er hatte es im Grunde genommen gut getroffen mit seinem Chef.
Sein Adjutantenjob war weitaus angenehmer als der vieler Offizierskollegen, die
etwa mit Entlausungskampagnen oder mit Wiederinstandsetzungsarbeiten von Kläranlagen
der Deutschen betraut worden waren. Der Colonel war vor dem Krieg Anwalt für
Wirtschaftsrecht gewesen und jetzt einer der Spezialisten in der Umgebung von
Montgomery, die die Reparationsleistungen in der britischen Zone und im
britischen Sektor von Berlin überwachten. Von seinem Vorgänger hatte Brown
gehört, dass Teasdale geschieden war und dass einer seiner Söhne beim
japanischen Vormarsch in Burma gefallen war. Ein weiterer galt seit Montgomerys
Eroberung von El Alamein als in Nordafrika verschollen. Ob der Colonel weitere
Kinder hatte, wusste Brown nicht. Er redete mit ihm kaum über
Privatangelegenheiten. Browns jüngerer Bruder war auch in Burma geblieben. Wenn
es nach Teasdales Adjutanten gegangen wäre, hätte er die verdammten Japsen mit
Hunderten von Atombomben eingedeckt.
    Vera auf der Rückbank ahnte nichts von
den Überlegungen ihres Fahrers. Sie versuchte, das Karussell der Gedanken in
ihrem Kopf zu ordnen.
    Der Mercedes glitt an mehreren
abgebrannten Bauerngehöften vorbei, und die Scheinwerfer erfassten in einer
Kurve eine Ansammlung von schneebedeckten Bodenerhebungen mit hüfthohen
Holzkreuzen. Sogar hier auf dem flachen Land hatte der Tod überall reiche Ernte
gehalten.
    Vera biss sich auf die Lippen und blickte
starr nach vorn durch die Frontscheibe in den weißen Flockenwirbel.
     
     
    Colonel Teasdale tastete nach dem Wecker
und brachte das penetrante Schrillen zum Verstummen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher