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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle
Autoren: Jürgen Ebertowski
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zum Besten gegeben, und Leyla, eine
dunkelhaarige orientalische Schönheit mit feurigen Mandelaugen, hatte
Marlene-Dietrich-Songs mit türkischem Akzent gesungen.
    Der Auftritt in Berlin war Veras zweiter
nach Kriegsende und vermutlich auch ihr letzter gewesen. Berlin, das war keine
Stadt mehr, das war immer noch die riesige, deprimierende Leichenhalle, die sie
bei ihrem ersten Besuch kennen gelernt hatte, als sie dort kurz nach
Stationierung der Briten mit einer anderen Varietetruppe aus Braunschweig im
britischen Offizierskasino am ehemaligen Adolf-Hitler-Platz mit einer
Rollschuhnummer aufgetreten war.
    Vera verabschiedete sich von ihren
Kollegen und zeigte wie alle Reisenden, die dem Zug entstiegen waren, den
Militärpolizisten an der Sperre die Reise-Permits.
    »Charming weather, isn’t it?«, begrüßte Colonel
Teasdales Adjutant die junge Frau mit einem Lächeln.
    »It is winter, so what!«, sagte Vera und
erwiderte das Lächeln matt. »Winter in Germany is always like this.«
    Sie war müde – die Fahrt in dem
überfüllten Zug hatte wegen zahlreicher Umleitungen und vereister Weichen eine
Ewigkeit gedauert –, müde und verzweifelt. Dass die Eltern tot waren, hatte sie
schon bei ihrem Berlin-Aufenthalt im Juli erfahren. Aber damals hatte es noch
Hoffnung gegeben, dass Karl vielleicht doch lebte. Sein Haus in der Florastraße
war zwar ein einziger Schuttberg, aber das musste nicht bedeuten, dass er auch
unter den Bombentrümmern begraben lag. In der Straße hatte kaum noch einer der
alten Anwohner gelebt, und die, die dort in den Ruinen hausten, hatten nichts
von seinem Verbleib gewusst. Im Rest -Adlon in der Behrenstraße war auch
nichts über sein Schicksal in Erfahrung zu bringen gewesen. Die Männer, die den
Seitenflügel wieder provisorisch als Hotel und Gaststätte instand gesetzt
hatten, waren überwiegend aus Ostpreußen und Pommern vertriebene Maurer und
Zimmerleute. Was aus den Volkssturmverteidigern des Adlon geworden war,
wer beim Brand des Hotels umgekommen oder wer in den Endkämpfen gefallen war,
davon hatten sie natürlich keine Ahnung. Wie auch! Die Stadt war überfüllt von
umherirrenden Flüchtlingen, Obdachlosen und Hungernden, die verzweifelt
jemanden suchten.
    Hätte Vera im Juli irgendwo Unterkunft
bei Bekannten oder Verwandten gefunden, wäre sie wahrscheinlich geblieben, aber
sie hatte niemanden mehr ausfindig machen können. Durch die Kriegswirren waren
Freunde und Bekannte gleichsam in alle vier Windrichtungen versprengt worden,
und außer den Eltern hatten sowieso keine Familienangehörigen in Berlin gelebt.
Ein Versuch, zu ehemaligen Kollegen Kontakt aufzunehmen, besonders zu Birgit,
ihrer Freundin, der zweiten Wendura-Schwester, hatte nicht minder deprimierend
geendet als die Suche überall nach Karl: Der Häuserblock mit Opa Gieseckes
Künstlereck in Charlottenburg existierte nicht mehr. Sie war danach sogar
noch nach Tempelhof gelaufen. Bennos Wohnhaus war auch restlos zerbombt gewesen.
    Braunschweigs Mitte glich einer
Trümmerwüste wie das Berliner Zentrum, aber zumindest am Stadtrand, fast schon
auf dem Lande, wo Vera zwei zugige Mansardenkammern in einem Reihenendhaus
bewohnte, waren wenigstens der Tod, der Leichengestank und das Elend nicht
allgegenwärtig, und die Auftritte in den britischen Armeekasinos verschafften
ihr das Minimum an Lebensmitteln nebst dem Geld für die Miete.
    »Wer etwas über den Verbleib von Karl Meunier weiß,
möchte mich bitte in Braunschweig…« Vera hatte vor der Rückfahrt im Sommer
Zettel mit ihrer Anschrift zu den Tausenden ähnlich lautender Nachrichtenfetzen
an die langen Holzwände vor dem Weddinger und Pankower Rathaus gepinnt, einen
sogar an die Mauer der Adlon- Ruine.Der Postverkehr mit der
britischen Zone funktionierte zwar seit September wieder einigermaßen
verlässlich, doch niemand hatte ihr geschrieben. Und auch in Zukunft war wohl
kaum mit einer Antwort auf ihre Suchanzeige zu rechnen, und falls doch, machte
Vera sich keine falschen Hoffnungen, welchen Inhalts das Schreiben sein würde.
    Sie riss sich zusammen, zwang sich erneut
zu einem Lächeln und reichte dem Leutnant den Pappkoffer.
    Brown nahm das Gepäckstück entgegen, trug
es zum Wagen und hielt die Fondtür des Mercedes für Vera auf. Sie stieg ein.
    »The Colonel thought, you
might be hungry after the trip.« Er
ließ den Motor an. »He asked
me to drive you right to the Forsthouse.«
    »Not really«, sagte Vera und kauerte sich
auf der Rückbank zusammen. Im
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