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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle
Autoren: Jürgen Ebertowski
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Stirn und
betrachtete eine Weile mit starrem Blick die morbide Hülle der einstmals so
prächtigen Luxusherberge, die die Großen, Reichen und Mächtigen der Welt als
Gast gesehen hatte.
    Der Pionier-Oberst lehnte sich aus dem
Jeep. »Kennen Sie das Haus auch noch von früher, Miller?«
    Der Captain nickte. »Nur zu gut,
Colonel.«
    »Ich auch.«
    Captain Miller stieg wieder ein. Scharf
wie ein Messer war die Erinnerung. In der American Bar des Hotels hatten
sich die akkreditierten Journalisten zweimal in der Woche getroffen, bis man
die US-Bürger unter ihnen ausgewiesen hatte: Howard Borg von der Chicago
Tribune, gefallen bei der Invasion Siziliens; Peter Books, Time, vermisst
im Pazifik; Betty O’Brian, Wallstreet Journal, tödlich verunglückt bei
einem Flugzeugabsturz über der Nordsee. Miller presste die Lippen aufeinander.
Auch er war wiederholt dem Tod regelrecht um Haaresbreite von der Schaufel
gesprungen. Was sollte all das Zurückblicken? Zu ändern war sowieso nichts. Die
Toten waren tot.
    Die Jeeps fuhren weiter.
    »Miller?«
    »Ja?«
    Der Pionier-Oberst zeigte an einer
Sowjetsoldatin vorbei, die an der Kreuzung Behrenstraße den Verkehr regelte.
»Der Teil von dem Kasten sieht aber noch einigermaßen benutzbar aus.« Es war
der Seitenflügel des Hotels, in dem sich die Adlon’sche Weinhandlung befunden hatte.
    »Von weitem zumindest«, sagte Miller und
streifte die Uniformjacke ab. Die Mittagstemperatur Ende Juni war bereits auf
hochsommerlichem Niveau.
     
     
    Der Captain berichtete in The Stars
and Stripes über das Einrücken der amerikanischen und britischen Truppen in
ihre Sektoren, schrieb über die Einrichtung der Interalliierten
Militärkommandantur für Groß-Berlin, über ihre erste Sitzung, war dabei, als
die »Großen Drei« auf der von Stalin ausgerichteten Konferenz in Potsdam
tagten, interviewte dort Truman und Eisenhower, schilderte für die Leser auch
die Ankunft der französischen Armeeeinheiten am 12. August 1945 und stand auf
der Ehrentribüne, als im britischen Sektor an der Charlottenburger Chaussee das
große Sowjetische Ehrenmal feierlich eingeweiht wurde. Schon im Oktober
zeichnete sich eine verschärfte Lebensmittelknappheit in allen vier
Besatzungszonen ab. Dazu kam ein Mangel an Kohle, unter dem besonders Berlin
litt. Die Ladungen der wenigen Züge, die die Stadt aus dem Ruhrgebiet
erreichten, wurden fast ausschließlich für die Elektrizitätsversorgung
benötigt. Besonders die Nahrungsmittelversorgung gestaltete sich in den drei
Verwaltungssektoren der Westalliierten als schwierig, seit sich die Russen von
dort zurückgezogen hatten und die ohnehin dürftigen Lebensmittellieferungen aus
dem Umland ausschließlich in ihrem Sektor zur Verteilung brachten. Die
Recherchen von Millers Stars-and-Stripes-Artikel über die
wirtschaftlichen Probleme des Nach-Hitler-Berlins erwiesen sich als einfach. Um
Material über die desolaten Zustände zu sammeln, brauchte er bloß durch die
Stadt zu fahren und die Leute auf der Straße zu befragen.
    Captain Miller teilte sich mit dem
Pionier-Oberst eine recht komfortable Wohnung in der Nähe des amerikanischen
Offiziersklubs in Dahlem. Er bekam einen requirierten Horch, vormals im Besitz
einer prominenten Schauspielerin, die bis zuletzt in den Durchhaltefilmen von
Goebbels gespielt hatte.
    Sergeant Robert Bums, ein gut aussehender
Texaner Ende zwanzig, im Zivilleben Fahrschullehrer, die Brust voller
Tapferkeits- und Verdienstmedaillen, wurde ihm als Fahrer zugeteilt. Burns
hatte sich trotz der mörderischen Zeiten, die er durchlebt hatte, irgendwie
seine Frohnatur bewahrt. Er war bei der Landung in der Normandie am
Omaha Beach dabei gewesen, hatte das letzte wirklich ernsthafte Aufbäumen der
Hitler-Wehrmacht, die Ardennenoffensive, als MG-Schütze zurückschlagen geholfen
und auch den Kampf um den Rhein-Übergang bei Remagen mitgemacht.
    »We have beaten all these
damned Hitlers, Sir. So what?«
    Burns hielt nicht viel von den Deutschen.
Von den Männern zumindest. Seine Abneigung erstreckte sich indes nicht auf die
»Froileins«, von denen Miller etliche kannte. Einmal, an seinem freien Tag, sah
Miller ihn in einem Café am Kurfürstendamm gleich mit zwei jungen Frauen an
einem Tisch auf dem Bürgersteig schäkern. Bereits im Sommer hatten sich die,
die es sich dort noch leisten konnten, auf dem Bürgersteig bei Kaffee und
Kuchen gezeigt. Es war eine verrückte Welt. Nicht bloß in den Arbeiterbezirken,
in der ganzen Stadt lebten
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