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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle
Autoren: Jürgen Ebertowski
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vielköpfige Familien und die vielen Flüchtlinge aus
dem Osten in Kellerlöchern und löffelten wässerige Kohlsuppe, während sich im
ehemals noblen Zentrum des Westens schon wieder wohlgekleidete Damen an echtem
Bohnenkaffee und Bienenstich delektierten, kulinarische Köstlichkeiten, von
denen neunundneunzig Prozent der Berliner nicht einmal zu träumen wagten. Es
war eine ungerechte Welt, wo selbst ehemalige KZ-Häftlinge kaum das Nötigste
zum Essen hatten, fand Miller.
    Sergeant Burns quälten derartige Reflexionen nicht. »Well, Sir, some people despair, some
people get along however bad the show.«
    Der Sergeant ging Miller wegen seiner
steten Think-positive-Attitüde zwar bisweilen auf die Nerven, aber er war
immerhin ein ausgezeichneter, zuverlässiger Fahrer und ein gutmütiger Kerl
außerdem. Die hübsche, stupsnasige Frau mit den zwei kleinen bezopften Mädchen,
die er jetzt als Freundin hatte und deren Mann in Russland gefallen war, musste
zumindest nicht hungern. Burns trieb sogar Puppen für die Kinder auf.
    »Back to Dahlem, Sir?«
    »Nein, erst noch zum Adlon.« Damit
war der Hotelflügel an der Behrenstraße gemeint, in dem bevorzugt führende SMAD -Angehörige
speisten. Captain Miller hatte dort ein Treffen mit zwei russischen
Presseoffizieren, die er über die demnächst bevorstehende Inbetriebnahme des
Senders DIAS – »Drahtfunk im amerikanischen Sektor« – unterrichten sollte. DIAS
konnte zwar nur über etwa 500 Drahtfunk- und 1000 Telefonleitungen empfangen
werden, aber immerhin senden, ohne dass die S MAD in die
Programmgestaltung eingreifen konnte.
    Das Rest- Adlon wirkte, was
Ambiente und Speiseangebot betraf, wie eine Karikatur des alten Hotels, und
auch vom alten Personal war niemand mehr da. Nur die Auswahl an alkoholischen
Getränken war zufrieden stellend. Die versalzene Rote-Bete-Suppe mit
Fleischklößchen von undefinierbarer Konsistenz, die Miller aß, musste ein
übellauniger strafversetzter Kompaniekoch zusammengerührt haben.
    Die russischen Pressekollegen waren
anfangs leutselig und trinkfreudig wie bei den früheren Treffen, wurden aber,
als Captain Miller ihnen von der DIAS-Gründung berichtete, plötzlich einsilbig
und verabschiedeten sich bald. Nachdenklich verließ Miller den Speisesaal.
    Sergeant Burns wartete im Wagen auf ihn.
Er hatte die Zeit seiner Abwesenheit genutzt, um derweil am Brandenburger Tor
den Mann zu treffen, der Edith bisher mit Kohlen versorgt hatte. Sie einigten
sich auf zwei Stangen Camel zur Aushändigung bei der Lieferung. Edith und die
Kinder würden es im Winter warm haben.
    »Jetzt zurück nach Dahlem, Sir?«
    Der Captain nickte. »Ja, zum Föhrenweg.«
     
     
    Das Haus im Dahlemer Föhrenweg, in dem
das Berliner OSS, das Office of Strategic Services, untergebracht war, war von
Albert Speer entworfen worden. Das geräumige Gebäude in dem ansehnlichen Park
hatte nur geringe Bombenschäden erlitten und Generalfeldmarschall Wilhelm
Keitel als Kommandostand gedient.
    Captain Miller wies sich am
Pförtnerhäuschen bei den beiden Militärpolizisten aus. Sergeant Burns parkte
den Horch hinter der Torschranke und blieb im Wagen. Miller musste am
Hausportal nochmals seinen Dienstausweis vorzeigen, bevor er eingelassen wurde.
Ein weiterer Polizist brachte ihn in den ersten Stock zu Bills Arbeitszimmer.
    »Nun, Paul? Wie haben sie es aufgenommen?« Der Mann
hinter dem Schreibtisch war nur wenig älter als Captain Miller. Er hieß Bill
Gleason. Über seine genaue Funktion in Berlin konnte Miller nur rätseln. Als er
das erste Mal zu einem Gespräch in das Haus gebeten worden war, hatte er ihn
sofort wiedererkannt. Gleason war einer der drei wortkargen Männer, mit denen
er Anfang Juli nach Berlin geflogen war, der mit den langen Haaren und dem
abgewetzten Cordjackett. Der Geheimdienstmann hatte dem Captain kommentarlos
ein Schreiben von General Eisenhower gezeigt. »The big boss« hatte Miller, der
den Oberbefehlshaber oft interviewt hatte, wärmstens dem OSS empfohlen. Nicht
zuletzt vermutlich wegen seiner Deutschlanderfahrung und der guten
Sprachkenntnisse. »Wir brauchen einen Mann, Captain, der am Puls der Zeit ist«,
hatte Gleason gesagt. »Jemanden, der den Deutschen und anderen Leuten in der
Stadt aufs Maul schauen kann und uns gelegentlich ungefiltert darüber
berichtet. Hätten Sie Lust, mitzumachen? – Selbstverständlich arbeiten Sie
offiziell weiterhin für The Stars and Stripes.«
    Miller hatte eingewilligt, und Gleason hatte ihm die
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