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Hungerkralle

Hungerkralle

Titel: Hungerkralle
Autoren: Jürgen Ebertowski
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bis über den Hemdkragen seiner
abgewetzten braunen Cordjacke. Die drei Männer wirkten nicht sonderlich
gesprächig über ihre Mission in Berlin. Miller tippte auf Geheimdienst.
    Den Captain hatte »the theatre of war« an
viele Stätten des Grauens geführt, aber Berlin sollte ihn zutiefst erschüttern.
Gleich beim Landeanflug wurde ihm klar, was ihn erwartete. Der Pilot musste
wetterbedingt eine Weile über der Innenstadt kreisen. Das Berlin, das Captain
Miller gekannt hatte, bevor er beim Kriegseintritt der Vereinigten Staaten via
Schweiz mit den anderen amerikanischen Journalisten ausgewiesen worden war, existierte
nicht mehr. Bis zum Horizont erstreckten sich die zerbombten Stadtviertel. Es
waren trümmerschuttbedeckte Ödflächen, wo er einstmals für die Washington Post und das Time-Magazin bis
spät nach Mitternacht in das pulsierende Leben der Metropole eingetaucht war,
Quadratkilometer um Quadratkilometer von skelettierten Wohnsiedlungen oder
Fabriken, eingestürzte Kirchen, bis zur Unkenntlichkeit zerstörte Gebäude, bei
deren Anblick kein Zweifel darüber aufkam, wie sehr die Deutschen für ihre
wahnsinnigen Lebensraumträume, ihren menschenverachtenden Rassenwahn und die
breite Unterstützung des Braunauer Rattenfängers zu büßen hatten. »Heute gehört
uns Deutschland und morgen die ganze Welt.« Dieses Lied war nach den
phänomenalen Anfangserfolgen des Blitzkriegs oft und mit Inbrunst gesungen
worden.
    ›Hochmut kommt vor dem Fall und der
Absturz desto heftiger‹, dachte Miller, als das Flugzeug zum Landeanflug
ansetzte und er aus seiner Vogelschau direkt in die ausgebrannten Dachstühle
und auf die durch Geröllmassen zu Trampelpfaden verengten Straßenzüge blickte.
»Heute gehört uns Deutschland…« – Den Überlebenden da unten gehörte allenfalls
eine düstere kleine Welt des täglichen Kampfes um Nahrung und Wohnstatt. Bei
aller Genugtuung darüber, dass Hitler-Deutschland endlich besiegt war,
verspürte Captain Miller keinen ungetrübten Triumph wegen dessen Niederlage.
Viele gute deutsche Freunde hatten in der unter ihm dahingleitenden
Trümmerlandschaft gelebt. Es waren zumeist Journalisten gewesen, die das braune
Regime abgelehnt, aber nicht vermocht hatten, sich wirkungsvoll
dagegenzustemmen. Wer als Nazigegner nach der Machtergreifung keinen Ärger mit
der Gestapo bekommen wollte, dem war nur der Weg in eine Art innere Emigration
geblieben. Und auch dann hatte er die allgegenwärtigen Gesinnungsschnüffler in
den langen Ledermänteln zu fürchten. Ein falsches Wort, beiläufig geäußert, und
der Betreffende war in »Schutzhaft« gesteckt worden. Miller hatte erlebt, wie
sich die Reihen derer von Zeit zu Zeit lichteten, die so unvorsichtig waren,
und sei es nur im so genannten Freundeskreis, kritisch über die neuen
Machthaber zu reden. – Was war aus Richard, dem Rundfunkreporter, geworden? Was
aus dem kleinen Herbert, einem Halbjuden und Herausgeber einer
Literaturzeitschrift? Was aus Gisela vom Pressestammtisch im Adlon, deren
Bruder beim Verteilen von kommunistischen Flugblättern während der Olympischen
Spiele verhaftet und ins Zuchthaus gesteckt worden war? Oder aus Mister Charles
vom selben Hotel, der die braune Bande wie die Pest verabscheut hatte? Der
Hausdetektiv hatte ihn bis zur Ausweisung in die Schweiz stillschweigend zu
seinen Interviewpartnern gefahren, obgleich klar gewesen war, dass diese Leute
alle auf den Gestapo-Listen gestanden hatten.
    Captain Miller wurde abrupt aus seinen
Gedanken gerissen, als das Flugzeug, eine enge Kurve beschreibend, sich stark
zur Seite neigte. Durch das gegenüberliegende Kabinenfenster sah er jetzt den
Flughafen. Im Gegensatz zu den anderen Großbauten der Stadt schien der
gigantische Gebäudekomplex von Europas einstmals größtem Luftkreuz bis auf
abgedeckte Dächer oder das von zugeschütteten Bombentrichtern narbenübersäte
Rollfeld noch weitgehend intakt zu sein. Captain Paul Millers Sitznachbar, ein
Pionier-Oberst, der sich ebenfalls im Vorkriegs-Berlin gut auskannte, deutete
auf das unzerstörte Lichtspielhaus Korso. »Dort habe ich Leni
Riefenstahls Fest der Völker gesehen.« Er schnaubte. »Danach bin ich mit
meiner damaligen Freundin im Tiergarten spazieren gewesen. Elfriede arbeitete
bei der Gartenverwaltung. In einem Schuppen zeigte sie mir eine von den
Parkbänken, die man vor den Olympischen Spielen in ganz Deutschland eilig
entfernt hatte. Sie trug die Aufschrift: ›Für Juden verboten‹«.
    Miller nickte. Er
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