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Hundestaffel

Hundestaffel

Titel: Hundestaffel
Autoren: Stefan Abermann
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brachte nicht den Willen auf, eigene Entscheidungen zu treffen. Ich verließ mich zu oft auf das Urteil anderer. Ich überließ ihnen das Handeln. Das machte mich machtlos.
    Aus diesem Fehler könnte ich lernen. Und warum auch nicht? Warum nicht neue Wege beschreiten? Warum nicht Akzente setzen? Selbstachtung wäre das einzige Argument, das sich finden ließe. Aber was denken wir über unsere Selbstachtung? Eben.
    Es wird wohl eine Mischung aus beidem sein: behutsames Zusammentragen der Erinnerungsscherben vs. Retuschieren, wo die Erinnerung hartes Durchgreifen braucht.
    Also frisch ans Werk: Starten wir noch einmal. Setzen wir einen neuen Anfang. Was passiert ist, könnte zum Beispiel an einem Dienstag begonnen haben. Wir könnten davon ausgehen, dass sich der Kern des Geschehens in zwei Dingen findet: in einer kleinen Bewegung, die übersehen wurde, und in einem Anruf, der die Weichen stellte für alles, was noch folgen sollte.
    Unser Ausgangspunkt ist also der Dienstag.

Dienstag
    Party, zum Teufel.
    Da war der Vorraum zu Don Juans Haus. Nein, Hannes’ Haus. Nein, noch einmal falsch: Das Haus seines Vaters, des Politikers. Manchmal vertausche ich die Besitzverhältnisse. Denn Hannes gefiel sich in der Rolle des Hausherrn. Im leeren Haus wurde er zum Oberhaupt seines eigenen kleinen Staates. Doch selbst er konnte mir in diesem Moment nicht helfen. Ich stolperte durch schwer passierbares Terrain. Die Steinfliesen hier, abwechselnd schwarz und weiß gewürfelt, waren für mich kaum überwindbar. Es war ein Hindernisrennen. Die Quadrate vervielfältigten sich monochrom in die Ewigkeit. Ich setzte den Fuß auf. Wenn ich den Stein berührte, war er warm, wenn ich den Fuß wieder hob, war meine Sohle kalt. In der Entfernung verrannen die Fliesen, schmolzen zu einem ausgelaugten Grau. Ich hob kaum mehr die Füße, schlitterte eher. Der Gang war ohnehin schon gefährlich geneigt, ich glaubte abzurutschen, nach links und rechts, hatte Höhenangst, war immer mehr davon überzeugt, dass ich nicht in einem Gang stand, sondern auf einer Wendeltreppe: Ich sah nach unten, die Stufen stauchten sich, dehnten sich – die eigene Optik schwang an einem Gummiband durch die Stockwerke.
Vertigo
! Niemals würde ich am Ende ankommen, niemals diese Tür erreichen, fürchtete ich, mein Kopf, oh mein Kopf, komm zurück, mein Kopf. Ich zwang meine Augen an die Wand, hielt mich an dem beruhigenden, einfachen Weiß fest. Weiß, meine Hand im Weiß, ich stieß mich von der Wand ab, meine Hand schien einzusinken wie in ein träges Gel. Ich arbeitete mich die Mauer entlang, ich durfte nicht nach unten sehen. Als ich die Badezimmertür am Ende des Ganges erreichte, hörte ich im Inneren ein Würgen, einen Schwall, wie von einem ausgeleerten Eimer, dessen Inhalt lautstark auf den Asphalt klatscht. Eine kurze Pause, dann noch ein Schwall und noch einer. Die Tür war angelehnt, ich stieß sie auf, hielt mich am Türrahmen fest. Bélisa kniete vor dem Porzellan, wie in ein Gebet versunken. Sie hielt sich schlaff, kein Knochen war mehr in ihrem Körper, ihre Glieder waren aufgeweicht; ihre Schulter zuckte, bevor die Bewegung wieder erstarb. Ihre Arschfalte zwängte sich aus der Hose.
    Ach Bélisa, ich könnte dir mehr Würde geben in diesem Bild. Sicher, so ist es gewesen. Und sicher, es hätte jedem passieren können. Aber hast du dieses Bild wirklich verdient? Ich sollte dir wahrscheinlich mehr Würde geben. Doch es ist nicht zu leugnen: An der Wand meiner Erinnerung hängst du ohne Grazie wie ein ausgebleichtes, verwaschenes Gemälde in einem schlecht beleuchteten Winkel, und du kotzt dich aus. Manchmal ist ein Bild einfach das, was es darstellt.
    Also: Bélisas Tanga war über den Hosenbund gerutscht, einige Strähnen ihrer Haare hingen traurig in ihrem eigenen Erbrochenen, gelber Speichel tropfte ihr brennend aus dem Mund. Sie keuchte, hustete wie ein absterbender Motor. Ein leises Stöhnen mischte sich unter die Zuckungen. Tränen rollten. Der Rand der Kloschüssel schien sich zu verlängern, sah aus, als nähme er sie in die Arme wie eine trauernde Mutter.
Mater dolorosa
. Das Bild erschien mir unwirklich, vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen, nichts passte zusammen. Ich fragte mich, ob ich ihr helfen sollte. Doch schließlich griff ich nur nach der Klinke und zog die Tür ins Schloss. Ich rüttelte sogar noch einmal daran, nur um sicherzugehen, dass sie nicht aus Versehen wieder aufschwingen könnte. Wenn ich mich nicht in Sicherheit
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